Das Wildfräulein und der Gemsenjäger

Im Paznauntale waltete mehr als in vielen ändern Gebieten Tirols, die reich an örtlichen Sagen sind, die mythische Sage vor, und es hat sich in ihm mancher Glaube erhalten, der anderwärts schon verschwunden ist, so wie auch mancher Nach- und Widerhall von Sagen sich findet, die in ändern Tälern noch entschiedener und ausgebildeter hervortreten.

Ermüdet von der Jagd kam einst ein Jäger spätabends bei einer leeren Sennhütte an, welche in einem Seitentale von Paznaun nördlich liegt und "Seßladtal" heißt. Er entschloß sich, in dieser Hütte über Nacht zu bleiben. Seine Beute, eine fette Gemse, legte er, daß sie frisch bleibe, auf das Dach und begab sich alsbald in die Hütte und machte sich ein Feuer auf. Er saß aber nicht lange beim Feuer, als er draußen ein Jammern von einem weiblichen Wesen hörte, daraus die Worte zu entnehmen waren: "Hier liegt unsere Kuh! ach, unsere Kuh! Sie ist tot! ach, sie ist tot!" Und bald darauf kam zu ihm in die Hütte hinein eine weißgekleidete, aber fürchterlich wild blickende Weibsperson, die ihn also anredete: "Du hast uns eine Kuh getötet, darum wehe dir! Ich will dich in Stücke zerreißen, du räuberischer Schütze." Der Schütze aber faßte Mut und sagte darauf: "Und ich erschieß' dich!", indem er seinen Stutzen erfaßte. Aber das Wildfräulein erhob die Hand, und der Schütze war festgefroren. Er fing daher zu bitten an und beteuerte hoch und teuer, daß er keine Kuh geschossen habe, wie es auch wirklich der Fall war. Hierauf sagte das Wildfräulein nach längerem Hinundherreden besänftigter: "Nun, diesmal soll dir die gedrohte Strafe geschenkt sein, aber wenn du nochmals eine unserer Kühe schießt, dann wehe dir! Damit du aber unsere Kühe alsogleich erkennen magst, so komme in unsern Stall, dort kannst du sie genau sehen und auch den Platz, wo uns die Kuh abgeht."

Wildfräulein und Schütze gingen nun einige Zeit bergauf, dann lenkten sie in eine unterirdische Höhle, in welcher ringsumher Krippen angebracht waren, an denen Gemsen hingen, nur an einer Krippe war der Platz leer. Dorthin deutete das Wildfräulein und sagte: "Siehst du, an jener Krippe ist ein Platz leer, hier hast du uns eine Kuh hinausgeschossen. Jetzt geh nach Hause, und tue fernerhin unsern Kühen nichts mehr zuleid."

Der Schütze ging; aber der Gram, fernerhin seiner höchsten Lebenslust entsagen zu müssen und keine Gemse mehr schießen zu sollen, fraß ihm am Herzen. Er hat hernach nicht lange mehr gelebt.


Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 213.