Das Wildg'fahr

Zur Mythenkunde vom "Wildg'fahr", der Wilden Fahrt, dem Wilden "Gejaite", Gejage, "Gereite", bieten das Pustertal, das Tauerngebirge, das Pinzgau, das Floitental und die Stillupp manche Bereicherung, manchen neuen Zug. Letztgenannte Distrikte bilden den hinteren Teil des Zillertales, wo kleine, geringe Almen mit ihren Geißweibeln (Ziegenhirtinnen) liegen, aufweichen nicht für Kühe, sondern nur für Geißen Nahrung zu finden ist. Ein alter Mann aus Finkenberg im Duxer Tal berichtet darüber: Bevor noch durch Ablässe und die verschiedenen kirchlichen Andachten die bösen Geister in Bann gelegt wurden, durchtobte die Hochtäler und Berge des hinteren Zillertals, des Pinzgaus und des jenseitigen Pustertals eine wilde Teufelsfahrt so, daß abends nach dem Gebetläuten sich niemand aus dem Hause wagen durfte; denn in der Nacht hatte die Hölle freien Spielraum und der Teufel mit einem ungeheuren Schwärm Gehilfen desgleichen.

Dies wilde Gefahre nahm die verschiedenartigsten Gestalten an: Raben, Schweine mit ungeheuren großen Hauern, auch feuersprühende Bären, Wölfe und Hunde, dann Katzen, die sich bald groß, bald klein machen konnten; und mit einem furchtbaren Lärm zog es bald durch die Luft, bald am Boden dahin. Wehe dem Menschen, der just auf einem Kreuzwege davon überrascht wurde; er war hin, mit Leib und Seele hin, denn an Kreuzwegen war gewöhnlich der Ausgangspunkt der Fahrt. Kam man auf Wegen zufällig in die Nähe des Wildg'fahrs, so mußte man sich auf der rechten Seite fortbeugen und ja nicht umschauen. In Häusern, wo zwei Türen, eine vorn und eine hinten, waren, mußte die eine immer gesperrt bleiben, denn sonst zog die wilde Fahrt durchs Haus und brachte Brand, Tod oder Unsegen für immer. Selbst die Fenster mußten so klein als möglich sein und als Symbol der heiligen Dreieinigkeit so gestellt werden, daß zwei Fensterlein nebeneinander und ein etwas größeres in der Mitte etwas höher an der Hauswand angebracht wurden, wie man noch bei älteren Häusern wahrnehmen kann. Dieses verhinderte dann den Eingang des wilden Heeres oder dessen Macht und dämonische Gewalt. Wurde ein Mensch von der Wilden Fahrt überrascht, so ward er gewöhnlich mit fortgerissen oder auf lange Zeit geschwächt, oder es wurde ihm sonst was angetan.

Einst weilte ein Mann hinten im Zemmergrund nach dem Gebetläuten auf dem Felde, als das Höllengesindel daherzog. Er verbarg sich unter einer Brücke, und die Fahrt zog über die Brücke hinweg. Als er aus dem Schlupfwinkel kroch, merkte er, daß ihm das linke Knie weh tat, und wie er heimwärts ging, wurde der Schmerz immer größer und größer. Er hatte fünf Jahre lang viel Geld verdoktert, doch alles war vergebens; auch mit geweihten Dingen konnte ihm nicht geholfen werden; da riet ihm endlich ein altes Geißweibele, er solle in der gleichen Nacht an den gleichen Ort sich hinstellen. Der Mann befolgte diesen Rat, und die Wilde Jagd zog auch richtig vorüber; dabei raunzte der Führer: "Hier zieh' ich mein Häcklein wieder aus, das ich vor fünf Jahren eingeschlagen habe ", und der Mann ist wirklich wieder frisch und gesund geworden. Besonders gefürchtet wurde die "Michaelisnacht" (29. September). Da waren die Unholde am kräftigsten und wütendsten, da fuhren am Vortag die Senner überall von den Alpen mit der Herde heimwärts, und niemand wäre auf der freien Weide geblieben. Ja selbst im tieferen Tale auf den Höfen getrauten sich die Fütterer nach dem Gebetläuten nicht in die Stallgebäude, man verschloß und verriegelte die Türen und schloß die Fenster. Das geschah wohl auch sonst nach dem Aveläuten in vielen Höfen. Nur die Christnacht war frei von ähnlichem Teufelsspuk. Man zeigt noch jetzt bei der Durchwanderung solcher abgeschiedener, schauerlicher Täler die Bahn und die Orte, wo der wilde Zug vorüberbrauste. Um denselben zu hemmen oder abzulenken, wurden große Kreuze aufgestellt, Kapellen gebaut usw. Es ist ein wichtiger, mythischer Zug in der " Wildenfahrt -sage" Tirols, daß sie ihren Hauptheerflug und -zug just in die Herbstnachtgleiche legt, die in ähnlichen Spuksagen kaum vertreten ist. Im größten Teil des nördlichen Deutschlands ist die Wintersonnwendzeit dafür angenommen, in der ja auch selbst in Tirol die Perchtl zieht. Die Frühlingsnachtgleiche nimmt häufig Hulda in Anspruch, die in der Sommersonnwendzeit offenbar in Johannesund Dreifaltigkeitsfestnächten geheimnisvoll wandelt. Zu Reite im Pustertale heißt die wilde Fahrt "Wildes Geriht" (Geriht, nicht Gericht wie einige sagen). In einer Gemeinde auf dem Iselberge war früher allgemeiner Volksglaube, daß bei dem Abführen des Heus von den Alpenwiesen, 9 Tage nach Michaeli, die Luft stets voller Teufel sei, so daß man keine Peitsche oder Rute in die Höhe heben durfte, weil sie sonst gleich glühend ward.

Da fürchteten sich die Fuhrleute so sehr, daß sie allesamt beim letzten Bauern aufeinander warteten, um nicht allein zu fahren. Es dürfte bei Betrachtung dieser mythischen Sagen zu beachten sein, wie das Heidentum in ihnen gegen das Christentum kämpft und letzterem unterliegt. Dieses zeigen deutlich der wilde Heeresspuk in der Adventszeit und dessen Beendigung durch die Ankunft des Welterlösers in der Christnacht, Hulda- und Perchtelzüge in den Zwölften und deren Verscheuchung durch die Ankunft der Heiligen 3 Könige, neue Geisterfahrten und toller Gespensterspuk in der Faschingszeit, Hexenzauber und Züge in grausen Nächten und deren Zerstreuung durch die heilige Ostersonne, heidnischer Opfer- und Feuerskult in der Johannisnacht, die der Trinitatismorgen beendet, Wilde Fahrt in der Nacht auf den Vorabend des Michaelitages, die der Schwertblitz des Erzengels, der den Höllendrachen glorreich überwindet, durchflammt. Immer die Gegensätze zwischen Nacht und Dunkel, zwischen Kampf und Sieg, zwischen Heidentum und Christentum.

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 343.