Das zerbröckelnde Kruzifix

Auf der uralten Burg Tirol, dem ehemaligen Landesherzen und Landesmittelpunkt, stand im Portal der Kapelle ein steinernes Kruzifix, von welchem jedesmal ein Stück abbröckelte oder abfiel, wenn ein Graf von Tirol, als Burgherr, mit Tode abging. Diese Grafen, unter denen sich besonders die drei Meinharde hervortaten*, starben mit Meinhard III. aus, der schon frühzeitig, im zwanzigsten Lebensjahre, auf seinem Stammschlosse verschied. Da fiel das größte Stück vom steinernen Christusbilde mit seiner Wunde blutend herab und blutete so lange, als der Burgherr auf der Totenbahre ausgesetzt lag; aber mit seinem Begräbnisse schloß die Wunde sich wieder, so daß nichts mehr davon zu bemerken war. Meinhards Tod ist als blutende Christuswunde auf Tirol gefallen! Dieses Wunder wiederhole sich - sagt man -, aber unblutig, jedesmal, wenn ein später regierender Landesfürst von Tirol das Zeitliche segnet.

* Die tirolische Geschichte erzählt, wie fromm und gottesfürchtig die Meinharde waren; die herrlichsten Abteien und Tempel bauten sie zum Lobe des Herrn, die Prälatur Stams, die Karthause in Schnals, die Pfarrkirche in Meran usw. Von ihnen rühren her die Malereien im Kelleramtsgebäude zu Meran, in Rungglstein, in der Burg zu Gries und in der Karthause zu Schnals. Gründungen von Spitälern und Anstalten für Kunst und Wissenschaft stammen aus ihrer Zeit. Minnesänger gingen auf ihrer Burg ein und aus, ihr Schloß Tirol war die südliche Wartburg, wo die Liederkämpfe ebenso wie auf der Thüringer Wartburg vor den Augen der kunstsinnigen Fürsten aufgeführt wurden. Hier erklang das Nibelungenlied; die Gesänge von Tristan und Isolde, die Tafelrunde waren die Unterhaltungsbücher der Ritter und Fräulein, und die Karthäuser in Schnals verfaßten zierliche Handschriften in mittelhochdeutscher Sprache. Es war also der Sitz der Blüte von Frömmigkeit, Kunst und Poesie, die bald darauf in der Reformationszeit unterging. Daher ist die Wendung in der Volkssage, "daß mit dem letzten Meinhard die Christuswunde blutend auf Tirol gefallen sei", ein unnachahmlicher Kernausdruck.

Quelle: Deutsche Alpensagen. Gesammelt und herausgegeben von Johann Nepomuk Ritter von Alpenburg, Wien 1861, Nr. 257.