FRAU HITT
In uralten Zeiten, als das Geschlecht der Riesen noch auf Erden lebte, hauste hoch in den Bergen über dem Inn, wo unten im Tal Innsbruck entstand, eine stolze, mächtige Riesenkönigin, Frau Hitt, deren Hochmut und Hartherzigkeit von allen ihren Untertanen gefürchtet war. Herrliche Wälder, saftige Weiden und wogende Felder erfüllten das Reich, das sie beherrschte. Edle Erze und kostbare Gesteine lagen in den Bergen offen herum, und ihr Reichtum war grenzenlos. Ein kristallenes Schloß, das weit in das Tal hinabglänzte, bot ihr mit seinen unzähligen prunkvollen Räumen einen wahrhaft königlichen Aufenthalt. Rings um das Schloß dehnten sich wundervolle Gärten, in denen die schönsten Rosen blühten, die es je zu sehen gab.
Frau Hitt, Postkarte von Heinz Pingger
1914
Sammlung Stadtarchiv Innsbruck
Frau Hitt nannte einen Sohn ihr eigen, den sie über alle Maßen
liebte und verhätschelte. Das junge Riesenknäblein tummelte
sich gern in der Nähe des Palastes umher und machte der besorgten
Mutter durch seine Neugierde und seinen Übermut gar manchen Kummer,
obgleich es meist harmlose Dinge waren, um die sie sich sorgte. Einmal
geschah es, daß der Riesenknabe auf einem Steckenpferd reiten wollte.
Er brach sich zu diesem Zweck eine junge Tanne ab, die am Rande eines
moosigen Sumpfes wuchs. Wie er sich aber da mit der Tanne herumbalgte,
gab das Erdreich nach, und der Riesenjunge plumpste samt seiner Tanne
in den schwarzen moorigen Schlamm. Zwar gelang es ihm, mit Hilfe seiner
ihm angeborenen Kraft sich aus dem unfreiwilligen Moorbad wieder herauszuarbeiten,
aber Hände und Füße und Kleider waren über und über
von dem übelriechenden Morast bedeckt, und auch das Gesicht wies
etliche breite Schmutzspritzer auf.
Heulend lief der Junge zur Mutter ins Schloß, bei jedem Schritt die schwarze Spur seines Unglücks hinterlassend. Frau Hitt beruhigte das Kind mit liebenden Worten und versprach ihm neues, schönes Spielzeug zum Trost für die ausgestandene Angst. Dann befahl sie ihren Dienern, den Knaben zu entkleiden und sauber zu baden. Damit aber nicht eine Spur von dem Morast an ihm haften bleibe, sollten sie ihn noch mit Milch und aufgeweichtem Weißbrot am ganzen Körper waschen und abreiben und dann mit wohlriechenden Essenzen besprengen.
Aber kaum hatten die Diener begonnen, die göttliche Gabe der Milch und des Brotes zu ihrem schmutzigen Werk zu mißbrauchen, als sich plötzlich der Himmel verfinsterte und mit rasender Schnelligkeit ein schweres Gewitter heranzog. Ein gewaltiges Erdbeben erschütterte die Berge, und mit donnerndem Krachen stürzte der kristallene Palast der Frau Hitt zu einem unförmigen Trümmerhaufen in sich zusammen. Und da kamen auch schon, gleichwie vom Himmel herabgeschleudert, riesige Muren und Steinlawinen die Berghänge herabgetost, fegten die Wälder hinweg, verschlangen die grünenden Almen und die blühenden Gärten und machten die herrlichen Fluren zur schreckenerregenden Steinwüste, aus der kein Grashalm mehr aufsprossen konnte. Das Reich der Frau Hitt war vernichtet, sie selbst aber zur schaurigen Felsensgestalt erstarrt, die ihren versteinerten Sohn in den Armen hält. Und so muß sie bleiben zum ewigen Gedächtnis ihres Frevels bis ans Ende der Zeiten.
Die Frau Hitt-Sage, Hans Hochegger, 1914 Dokumentation
Quelle: Die schönsten Sagen aus Österreich,
o. A., o. J., Seite 251