Die erlöste Sennerin

Auf der Grauner Alm in Vintschgau übernachteten einmal zwei Jäger, als die Senner schon längst abgefahren waren. Gegen Mitternacht sah der eine, welcher noch wachte, eine Sennerin in den Kaserraum treten und weckte verwundert seinen Kameraden. Sie machte Feuer auf, goß Wasser in die Pfanne und stellte sie auf den Dreifuß. Dann kratzte sie mit beiden Händen Asche zusammen, warf sie ins wasser und ließ desselbe sieden. Nach einiger Zeit nahm sie die Pfanne vom Feuer und setzte sie auf den Tisch. Hierauf winkte sie stumm den beiden, vom heu herunterzukommen und zu essen. Da die Jäger gesehen hatten, wie das Mus zubereitet worden war, hatten sie längst jeglichen Appetit verloren und leisteten der Aufforderung, auch als die Dirn das zweitemal winkte, keine folge. Erst als sie es zum drittenmal mit flehentlicher Geberde wiederholte, stiegen sie von der Leiter herab, setzten sich an den Tisch und begannen zu essen. Wie erstaunten sie aber, als die schwarzgraue Masse wie das beste Milchmus schmeckte und sie aßen alles sauber aus. Die Sennerin stand unterdessen in einem Winkel der Kaser und schaute den beiden gespannt zu. Als die Jäger den letzten Löffel voll zum Mund geführt hatten, wurde das Gewande der Dirne auf einmal schneeweiß, sie trat zu den beiden hin, dankte ihnen für ihre Erlösung und sagte: "Ich war zu meinen Lebzeiten hier Sennerin, verschwendete aber in meinem Leichtsinn viel Milch und Butter und mußte deshalb seit meinem Tode schon viele Jahre lang hier büßen, ohne daß mit jemand das Mus nur gekostet hätte, bis ihr mich endlich von meinem Leiden erlöst habt". Damit verschwand sie, und die Jäger suchten um frohen Bewußtsein, eine arme Seele erlöst zu haben, wieder ihr Heulager auf.

Quelle: Sagen aus Innsbruck's Umgebung, mit besonderer Berücksichtigung des Zillerthales. Gesammelt und herausgegeben von Adolf Ferdinand Dörler, Innsbruck 1895, Nr. 22.