Der Schatz in der Reichenspitze

Inmitten der großartigen Gletscherwelt der Zillerthaler Ferner und der hohen Tauern ragt der gewaltige Eisdom der Reichenspitz in die Luft, und weithin schimmern seine ausgedehnten Schneefelder, die sich hoch über grauen Felsabstürzen ausbreiten. Im Innern dieser Spitze liegt nun schon seit uralten Zeiten ein unerschöpflicher Schatz von Goldmünzen und funkelnden Edelsteinen, der von kleinen, graubärtigen Männlein gehütet wird. Sie sind zum Schutze gegen die Kälte in dichten Loden gekleidet und zeigen sich nur sehr selten den Blicken der Menschen. Wenn aber ein armer Bauer auf die Reichenspitze steigt, um sich seine Taschen mit Gold füllen zu können, so geben ihm die Schatzhüter soviel er will, jedoch muß er dann nach seinem Tode hüten helfen. Die Venediger aber erhalten von den Hütern Schätze in Hülle und fülle, ohne dafür büßen zu müssen.

Eines Tages kam nun ein Venediger-Manndl nach dem einsamen Dörflein Gerlos und nahm von dort einen Führer, ob er gleich seinen Lohn haben oder mit ihm den Gewinn, den er auf der Spitze zu erhalten hoffe theilen wolle. Da der Führer zweifelte, ob der Fremde oben überhaupt etwas ausrichte, wünschte er lieber gleich bezahlt zu werden. Auf dem Gipfel angekommen, zog der Venediger mit seinem Stocke einen Kreis in den Schnee, trat mitten in denselben hinein und begann aus einem Buche, das er stets bei sich hatte, Zauberformeln zu lesen. Da erscheinplötzlich ein ganz kleines "Letarl" mit einem straff gefüllten Geldsacke, den es dem Venediger übergab und dann eilig wieder zwischen den Felsblöcken zu verschwand. Dieser lud sich den Sack auf den rücken und befahl dem Führer, sich nun zum Abstiege zu rüsten. Letztern reute es bitter, daß er die Löhnung früher verlangt hatte und jetzt das Gold nicht mit dem Venediger theilen durfte. Sinnend, wie er den reichen "Kampl" etwa doch noch überlisten könnte, schritt er mit ihm bergab. Als sich ihm aber eine günstige Gelegenheit darbot, eilte er plötzlich ein Stück weit voraus und versteckte sich hinter einem Felsen, um hier dem Venediger aufzulauern. Lange verharrte er in seinem Verstecke, aber merkwürdig, sein Herr kam nicht, und als er ihn endlich zu suchen anfieng, schien er wie vom Erboden verschwunden. Mißmuthig gieng darauf der Führer nach Hause.

Nach einem Jahre trafen sich die beiden wieder und der Venediger fragte seinen ehemaligen Führer, ob er sich noch erinnere, wie sie mitsammen auf den Reichspitz gestiegen seien. Als dieser es bejahte, fragte der Venediger, er wisse auch ganz gut, daß er ihm aufgepaßt habe, aber gerade, wie ihn im verstecke eine Fliege auf die Nase gebissen habe, sei er so "gleim" an ihm vorbeigegangen, daß sie bald "ugezöh'n" hätten.

Quelle: Sagen aus Innsbruck's Umgebung, mit besonderer Berücksichtigung des Zillerthales. Gesammelt und herausgegeben von Adolf Ferdinand Dörler, Innsbruck 1895, Nr. 63.