Der Schimmelreiter

Vor alter Zeit geriethen einmal zweit Gemeinden miteinander wegen einer Alpe in Streit. Vergebens suchte man dabei nach den Marksteinen, denn diese hatte die eine Gemeinde schon heimlich entfernt, damit es nicht mehr möglich wäre, die Grenzen festzustellen. Nun verabredete man eine Zusammenkunft auf der strittigen Alpe, bei welcher der Vorsteher der betrügerischen Gemeinde schwur, so wahr er auf eigenem Grund und Boden stehe und den Schöpfer über sich habe, gehöre diese Alpe zu seiner Gemeinde. Nun wurde ihm allgemein Glauben geschenkt und die Alpe gieng der betrogenen Partei verloren. Der schlaue Vorsteher hatte sich aber Erde von seinem Garten in die Schuhe getan und eine Löffel (Schöpfer) unter den Hut gesteckt, denn er glaubte, so einem Meineide entgehen zu können.

Nach seinem Tode aber mußte er verkehrt und ohne Kopf auf einem Schimmel sitzend, die Alpe und die nahen Wälder durchreiten und stieß dabei so laute "hianige" Juchzer aus, daß man sie weithin hörte und jeden, der sie vernahm, entsetzen. Besonders schrecklich heulte und tobte er an heiligen Zeiten und die Senner fürchteten oft, er reiße ihnen noch die ganze Hütte zusammen. Wenn ihm jemand begegnete, der nicht gut "b'segn't" war, "verführte" er ihn soweit, daß der Verirrte die längste zeit nicht mehr den rechten Weg finden konnte. Häufig zeigte er sich auch als Geistlicher oder saß einsamen Wanderern auf den rücken, und sie glaubten dann, eine mehr als centnerschwere Last tragen zu müssen. Jetzt hört man aber nichts mehr von ihm, denn er hat wahrscheinlich seine Erlösung gefunden.
(Zirl)

Quelle: Sagen aus Innsbruck's Umgebung, mit besonderer Berücksichtigung des Zillerthales. Gesammelt und herausgegeben von Adolf Ferdinand Dörler, Innsbruck 1895, Nr. 34.