Die Venediger-Manndln

Es gibt wohl kein Thal in ganz Tirol, in welchem man nicht von "Venediger-Manndln" oder kurzweg "Venedigern" zu erzählen weiß, denn unser schönes, an edlen metallen und Mineralien so reiches Land lockte schon früh besonders die Venezianer an, um die Schätze der Erde zu Tage zu fördern und davonzutragen. Sie kamen gewöhnlich im Frühjahre an, arbeiteten während des Sommers in den Bergen und Schluchten und zogen im Herbste mit Gold beladen heim nach Vendig. Oft sahen die Senner, wenn sie in aller Frühe melken giengen, so ein Venediger-Manndl, das die ganze Nacht Goldsand gesammelt hatte, mit wohlgefüllten Säcklein auf dem Rücken, zu Thale steigen.

Bei ihrem einträglichen Handwerk kam ihnen ihr "Bergspiegel" sehr zustatten, den sie bloß aus dem ihre Vaterstadt umgebenden Meere herauszunehmen brauchten und ihn ihm alle Schätze, Goldwässerlein und Erzgänge weit in der Runde sahen. Manche Venediger hatten auch eine Kugel, an welcher ein Zeiger angebracht war. Beim Gebrauche hielten sie dieselbe mit Daumen und Zeigefinger an einem Faden fest, so daß sich die Kugel nach allen Seiten drehen konnte, und der Zeiger wies nun immer nach der Richtung hin, wo der Schatz verborgen lag.

Um die Zauberkünste zu erlernen, besuchten die jungen Venediger die "schwarze Schule" in ihrer Vaterstadt, doch konnten nie mehr als zwölf auf einmal eintreten. Nach Beendigung des Curses gehörte jedoch derjenige Schüler, welcher zuletzt zur Thüre hinausgieng, seinem Lehrmeister, dem Teufel. Das Merkwürdigste bei der Sache war aber, daß die andern elf nie herausbringen konnten, welcher Kamerad fehlte.

Die Venediger-Manndln erschienen auch manchmal als Hausierer verkleidet in den Dörfern Tirols. Sie boten dann seltsame Käfer feil, die sie in einem umgehängten Kästchen trugen. Es nahm ihnen aber fast niemand solche ab, da man nichts mit den Thierchen anzufangen wußte. Wer aber einen solchen Käfer gekauft und ihn in die Tasche zu seinem Gelde gesteckt hatte, dem gieng dasselbe niemals aus. Deshalb sagte man noch heute, wenn jemand recht Großthut und viel aufgehen läßt, er habe gewiß einen Venediger-Käfer beim Gelde.

Quelle: Sagen aus Innsbruck's Umgebung, mit besonderer Berücksichtigung des Zillerthales. Gesammelt und herausgegeben von Adolf Ferdinand Dörler, Innsbruck 1895, Nr. 62.