St. Leonhard auf der Wiese
Vor uralten Zeiten kam einmal ein steinernes Bild des heiligen Leonhard auf dem Inn herabgeschwommen und wurde bei Kundl ans Ufer gelegt, wo es die Kundler fanden. Sie schafften das Bild fort, stellten es an der Heerstraße auf und bauten eine Kapelle darüber.
Da kam Kaiser Heinrich, der zweite seines Namens, von Deutschland herein gegen Rom geritten, der sah alsbald das Bild am Wege und hörte von den Wunderthaten [Wundertaten] des Heiligen. Er gelobte, da eine Kirche zu bauen, wenn der Kriegszug gelänge. Auf dem Heimwege zog er aber nicht bei diesem Bilde vorbei und vergaß daher des Gelöbnisses.
Darauf begab es sich, dass der Kaiser abermals einen Heerzug nach den wälschen Landen antrat, und als er diesmal bei der Kapelle des heiligen Leonhard vorbeikam, wollte sein Gaul nicht mehr vorwärts, sondern bäumte sich und warf schneeweißen Schaum. Da fiel dem kaiserlichen Herrn das vergessene Gelübde schwer aufs Herz, und nach dem reumüthigen [reumütigen] Versprechen, es auch zu lösen, wurde er vom Rösslein auf einmal gar sänftiglich vorübergetragen.
Wallfahrtskirche hl. Leonhard ("St. Leonhard auf der Wiese"),
Kundl
Der Baubeginn dieser gemauerten Kirche wird auf 1480 datiert
© Wolfgang
Morscher, 10. Mai 2005
Es wurde Hand aus Werk gelegt, und im Jahre 1019 stand die Kirche fertig da bis auf das Kreuz, das man rein vergessen hatte hinaufzuthun [sic]. Und das Gerüst war bereits weg. Da schickten sie den flinkesten [sic] unter den Zimmerleuten mit dem Thurmkreuz [Turmkreuz] hinauf, es aufzustecken. Als dieser ganz oben war, sah er drei Löcher statt eines; daher wollte er hinunterfragen, welches das rechte wäre; aber im Hinabschauen gruselte es ihn ob der greulichen Tiefe, und er stürzte herab und war maustodt [maustot].
Wo war das Kreuz? Die unten Stehenden suchten es, schauten in die Höhe, weil sie es unten nicht fanden, und siehe da, das Kreuz stak ganz fest im mittleren der drei Löcher, das hatte der heilige Leonhard selber hineingesteckt.
Zum Wahrzeichen dieses Ereignisses schnitten die Mitgesellen dem Todten [Toten] den Kopf ab und thaten [sic] ihn in die Kirche. Dieser Schädel ist noch heute unten an einem Crucifix [Kruzifix] angebracht zu sehen.
Die Kaiserin, namens Kunigunde, weilte oft und gerne bei diesem Kirchlein, und von ihr hat der Sage nach das Dörflein Kundl seinen Namen.
Es war früher, der Brauch, dass am Silvestertag die Bauern im Unterinnthal
[Unterinntal] von weit und breit auf ihren Rossen zur Kirche St. Leonhard
auf der Wiese kamen, daselbst dreimal um die Kirche ritten, dann ein Opfer
brachten und wieder heimkehrten. Es mag beigefügt werden, dass in
dieser Kirche auch ein Bild des heiligen Wolfgang verehrt wird.
Quelle: Volkssagen, Bräuche
und Meinungen aus Tirol, gesammelt und herausgegeben von Johann Adolf
Heyl, Brixen 1897,
Nr. 3, S. 45