Wie das Bergwerk in Obernberg sein Ende fand

Im Obernberger Thal [Tal], unweit des Brenners, war in alten Zeiten ein Gold- und Silberbergwerk. Das ganze Thal war voll Bergknappen, lauter kleine Männlein, die ihr Handwerk ausgezeichnet verstanden. Sie wurden durch den ergibigen [ergiebigen] Bergsegen über die Maßen reich, so reich, dass sie nicht mehr mit hölzernen Kegeln spielen mochten, sondern sich goldene machten und eine goldene Kugel dazu, ein ganzes goldenes Kegelspiel. Wenn sie damit spielten, hörte man das Klingen des Goldes durchs ganze Thal. Auch trieben sie anderen Übermuth [Übermut]; so nagelten sie ihre Bergschuhe nicht mehr mit eisernen, sondern mit goldenen Nägeln. Der eine Frevel that sich zum andern, und zuletzt, als sie gar nicht mehr wussten, wie sie ihren Übermuth auslassen sollten, kamen sie auf den Einfall, einen Stier zu schinden. Sie zogen demselben die Haut ab, rieben ihn sodann am ganzen Leibe mit Salz ein und jagten das Thier in seiner entsetzlichen Qual thalaus. Am Ausgang des Thales aber blieb der Stier stehen und "lüente", furchtbar gepeinigt, zu dem dort stehenden Wegkreuz hinauf. Das Gebrüll hallte durch das ganze Thal und drang auch hinein in den hintersten Theil und ins Bergwerk. Dieses stürzte augenblicklich ein, und alles Gold und Silber war begraben und mit ihm viele Knappen. Die anderen, welche noch übrig geblieben waren, vergruben jetzt selber das goldene Kegelspiel unter einem Felsblock, denn ums Spielen war ihnen nimmer zu Muthe [Mute]. Zum Schutze des goldenen Spieles aber meiselten [meißelten] sie eine Geige in den überhangenden Stein. Kaum waren sie damit fertig, so schnob auch alsbald der Pestwind durchs Thal herein, und wen er anblies, der war augenblicklich todt [tot]. Die Knappen flohen über die Bergjöcher, aber auch sie ereilte der Wind, und das ganze Obernberger Thal starb aus. Später kamen Leute aus Schmirn, die bauten das Thal wieder an, blieben aber einfache und fromme Bauersleute, Das Bergwerk blieb verlassen, aber noch gegenwärtig findest du zuhinterst im Thale die Spuren davon. Auch der Felsblock mit der Geige soll noch stehen, allein er ist schwer aufzufinden, und das goldene Kegelspiel harrt noch immer der erlösenden Hand. Wollen wir nicht miteinander auf die Suche gehen? Ich nehme die Kegel und du die Kugel.

Quelle: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, gesammelt und herausgegeben von Johann Adolf Heyl, Brixen 1897,
Nr. 57, S. 95f