DER TÜRKENSCHLEIER

Eine reiche, stolze Bürgerstochter hatte alle Freier abgewiesen. Als nun gar ein armer Vogelhändler um sie warb, meinte sie spottend: „Einverstanden, aber nur, wenn du die Schneid hast, einer Türkin den Schleier herabzureißen und mir diesen bringst."

Ein Jahr gab sie ihm Wartzeit. Weil er nach der abgelaufenen Frist nicht heimkehrte, machte sich die Jungfer Gewissenbisse, die immer ärger wurden. Schließlich ging sie selber, den Verschollenen zu suchen. Er hatte wirklich einer vornehmen Türkin beim Verkauf seiner Vögel den Schleier herabgerissen und war dafür nach mohammedanischem Gesetz gar schwer bestraft worden. Im dunklen Kerker mußte er seine Untat büßen. Nach langer Irrfahrt und allerlei Entbehrungen erreichte die von Reue erfüllte Imsterin die Stadt am Goldenen Horn, warf sich dem Sultan zu Füßen und bekannte mit Hilfe eines Dolmetschen ihren üblen Scherz. Der Fürst, von der Schönheit und dem Wagemut dieses Mädchens gerührt, schenkte dem Vogelhändler auf der Stelle die Freiheit, worauf die beiden ein Paar wurden.


Quelle: Imster Geisterbrevier, Hermann J. Spiehs, Imst 1936, Seite 34