DER VERLORENE GEIST

Darunter seien solch Geister zu verstehen, die sich dem priesterlichen Banne irgendwie zu entziehen wußten, daher noch immer auf ihre Weise herumzuirren vermögen.

Etliche Imster Bauern gingen dereinst nach der Maldon, um das "Zohne" (Festsetzen der Almerträge nach altüberlieferten Maßen) vorzunehmen. In der Salvösen überholte sie ein greiser, dabei schwarzbärtiger Mann, der es scheinbar sehr eilig hatte. Die Imster fragten ihn nach dem Ziel seiner Wanderung und erhielten zur Antwort:

"II geh auf d' Maldon
malche zun Zohn!"

Und schon war der Fremde außer Reichweite. Die Bauern dachten nicht viel dabei, ließen sich das steilste Stück des Almweges gut Weil. Als sie aber oberhalb der Schlucht des Fremden nirgends ansichtig wurden, kam ihnen die Geschichte langsam komisch vor.

"Wenns halt doch so ein versprengter Geist war?" mutmaßte einer und die anderen nickten zustimmend. Beim Almzaun kam ihnen in den Sinn, was ihre Vorfahren sie gelehrt hatten. "In d' Lödlatte beiße", hieß es allgemein, damit einem die Almputze nichts anhaben könnten.

Die Männer bissen also der Reihe nach in eine der vier Stangen, um für alle Fälle gefeit zu sein. Als sie der Hütte näherkamen, sahen sie den Schwarzbärtigen tatsächlich hinter dem eisenvergitterten Fenster der Milchkammer stehen. Immer noch dachten sie nichts Besonderes. Der Senner würde den Fremden eben eingelassen haben, war ihre Meinung. Erst da sie die Hüttentür verschlossen fanden und der Senner trotz lauten Rufens nicht öffnete, langten sie ihre Rosenkränze hervor. Drinnen aber begann es gar arg zu toben. Milchschüsseln und anderes Geschirr flog durcheinander, die Wände der Hütte krachten, als wollten sie bersten.

Einer der Bauern hatte den Einfall, seinen besonders geweihten Rosenkranz nach dem schwarzbärtigen Almputz zu schleudern, da er sich wieder am Fenster zeigte. Im Nu endete aller Spuk und der gleich darauf vom Viehaustrieb heimkehrende Senner nahm die Schilderung der Imster für unwahr, sie selber für übergeschnappt, zum mindesten für benebelt; denn als er als erster die "Kaser" betrat, fand er alles und jedes in schönster Ordnung. Die vier Almprüfer aber ließen sich's nicht nehmen und so oft sie in Hinkunft zur Maldon gingen, niemals vergaßen sie, in d' Lödlatte zu beißen. „Man kann it wisse, für was es guet isch!" verteidigten sie sich noch in alten Tagen gegen Neunmalkluge und Besserwisser.

Lödlatte: Einschublatten oder -stangen bei einem Zaun (als Viehdurchlaß)


Quelle: Imster Geisterbrevier, Hermann J. Spiehs, Imst 1936, Seite 14