DIE WILDE JUNGFRAU

Wenn es in Arzl und den umliegenden Dörfern Wald, Karres, Karrösten gebetläutet, so ist es höchste Zeit, den Arzler Wald zu verlassen, sonst gerät man in den Bann der Wilden Jungfrau und kann sehen, wie es einem ergeht. "'s Wendls Zille" war beim Wacholderbeerpflücken vom Aveläuten überrascht worden. So nahm sie sich vor, gleich heimzugehen, doch wollte sie noch rasch etliche der selten schönen Beeren abpflücken. Gedacht, getan. Allein, was war denn nur? Sie fühlte sich plötzlich so schlafmüde, und sank trotz inneren Sträubens an der Seite des Strauches nieder. Tat nur ein "Fünfminutengnapserle" aus dem sie jählings emporgerissen wurden. Die Wilde Jungfrau mit Gefolge raste an ihr vorbei; ein Dutzend Stimmen klangen durcheinander, Hufgedröhn, Sausen und Brausen ertönte ...

Die Beerenklauberin rühte sich nicht, Sckreck und Angst lähmten ihre Glieder. Die ganze Nacht ließ es sie nicht von der Stelle. Erst als die vier Kirchenglocken wieder zu neuem Tagwerk riefen, gewann sie soviel Gewalt über sich, um dem Zauberbereich entfliehen zu können. Nie wieder, nahm sie sich vor, würde sie etlicher Beeren wegen ihr Leben und Seelenheil aufs Spiel setzen.

Quelle: Imster Geisterbrevier, Hermann J. Spiehs, Imst 1936, Seite 59