Der Glungezer-Riese

Auf dem Tulfer Berg (Volderer Berg), wo die Tulfein (Tulfeiner) Alm liegt, stand einst inmitten duftender Wiesen der Palast eines Hirtenkönigs, der mit seinen vier Töchtern droben lebte und sein Volk mild und segensreich regierte.
Da brach in den Frieden des Hochtals ein Riese ein, der in der Nähe der Glungezerspitze eine Höhle bewohnte und zur Nachtzeit oft so furchtbar brüllte, daß Lawinen und Muren losgerissen wurden und verheerend ins Tal
niederstürzten.

Als eines Tages der Riese die vier schönen Königstöchter sah, erfaßte sein rauhes Herz die Sehnsucht nach diesen Sonnenkindern; er wollte eine der Prinzessinnen freien und trug seinen Wunsch dem König auf dem Tulfeiner Schloß vor.

Der erschrak bis ins Herz hinein, als er die Bitte des häßlichen Riesen hörte, antwortete ihm aber, daß er als Vater seinen Töchtern ihrer Wahl ganz freie Hand lasse; gewinne der Riese die Zuneigung einer der Prinzessinnen, dann sei er auch dem König als Eidam willkommen.

So brachte also der Glungezer-Riese, der sich so fein als möglich herausgeputzt hatte, seine Werbung vor. Die vier Königstöchter brachen in silberhelles Lachen aus, als sie den plumpen Riesen verliebte Worte stammeln hörten, und schickten ihn mit vier Riesenkörben wieder heim. Der abgewiesene Freier aber
sann auf furchtbare Rache. In der nächsten Nacht wälzte er vom Glungezer haushohe Felsblöcke gegen Tulfein, die das Königsschloß samt dem Herrscher und den vier Prinzessinnen an den Rand eines Wildsees schoben, in dessen Fluten die Burg und ihre Bewohner versanken. Heute nennt man den Tümpel, der von jenem See noch übriggeblieben ist, den "Schwarzen Brunn".

Den Riesen faßte nun, da seine Rache gekühlt war, tiefe Reue. Am Ufer des Wildsees saß er tage- und nächtelang und weinte bitterlich, vermochte aber die ertrunkenen Königstöchter nicht mehr zum Leben zu erwecken. Später wurde der Glungezer-Riese in ein eisgraues Bergmännlein verwandelt, das seine
runzeligen Händchen sehnsüchtig ausstreckt nach den lichten Gestalten der vier Königstöchter, die als Salige über dem See schweben. Aber der Unglückliche vermag die Geistergebilde nicht zu erreichen und stürzt sich in seiner Verzweiflung in die Wellen, um die brennende Glut seines leidenschaftlichen Herzens zu
kühlen.

Quelle: Email Zusendung von Brigitte, 8. April 2003; nach: Die schönsten Tiroler Sagen, Karl Paulin, Innsbruck 1972, fehlerhafte Bezeichnungen korrigiert.