Das Venedigermännlein

In einer Alpe des Tales Verwall weidete ein Hirte einst die Kühe. Er wusste daselbst eine ausnehmend gute Quelle, die er öfters aufsuchte, um seinen Durst zu löschen. Eines heißen Tages ruhte er, nachdem er sich an dem vortrefflichen Wasser wieder gelabt hatte, auf dem grünen Rasen bei der Quelle und aß einen Teil seines mitgenommenen Mittagmahles. Bald darauf kam ein Bettlermännlein und wünschte ihm eine gute Zeit. Der Hirte dachte sich:

»Diesem Armen will ich jetzt eine tüchtige Butterschnitte bereiten. « Das Männlein nahm dieselbe mit freudigem Blicke an und verzehrte sie mit großer Esslust. Sodann trat es zu der nahen Quelle, trank davon und nahm aus ihrem Grunde ein Häfelein voll Sand, den es in ein Tüchlein schüttete. Hierauf zeigte es dem Hirten diesen Sand - es war echter Goldsand — und sagte: »Stelle nur das Häfelein unter dieses Wasser, und wenn es mit Sand vollgefüllt ist, dann nimm es heraus und bringe mir dessen Inhalt nach Venedig, wo ich ihn dir teuer bezahlen werde. Diesen Gefallen erweise ich dir zum Danke für die Butterschnitte.« Rasch hatte sich das Männlein entfernt, und der Hirte tat, was ihm dasselbe geraten. Er sah öfter nach, ob sich das Häfelein bald mit Sand gefüllt hätte; allein solange er in der Alpe die Kühe weidete, war dasselbe erst bis zur Hälfte voll geworden. Wie er aber im Spätherbst wiederum nachsehen ging, da war es bis an den Rand mit Sand gefüllt. Freudig gab er diesen in ein Tüchlein und stellte das Häfelein wieder in die Tiefe der Quelle. Gleich darauf reiste der Hirte mit dem Sande nach Venedig. Hier wanderte er geraume Zeit in den Straßen der großen Stadt herum, bis er endlich vor einen schönen Palast kam. Dort sah gerade ein vornehmer Herr zum Fenster hinaus und rief zu dem Fremdling hinunter, was er feil habe. Als dieser erwiderte: »Goldsand«, so berief jener ihn zu sich. Wie dann der Hirte in das Zimmer des Herrn getreten war und demselben seinen Sand gezeigt hatte, so bot er ihm dafür 600 Florin an; doch bemerkte er, er könne noch in der Stadt herumgehen und nachsehen, ob er vielleicht noch mehr Geld für diesen Sand bekomme; wenn nicht, so solle er wieder an ihn sich wenden. Der Hirte hatte den Rat des wohlmeinenden Herrn befolgt, indes niemand wollte ihm mehr als 500 Florin dafür bezahlen. Daher begab er sich wieder zu seinem alten Herrn und ließ sich für den Sand die angebotenen 600 Florin auszahlen. Dabei fragte ihn der Herr, ob er ihn nicht kenne. Der Gefragte entgegnete, nein, er habe ihn in seinem ganzen Leben nie gesehen. Da versetzte der Herr, er sei jenes Männlein, dem er im verflossenen Sommer in Verwall eine Butterschnitte gereicht habe. Staunend trat der Hirte seinen Heimweg an und war fest entschlossen, sobald er nach Hause gekommen, das Häfelein oftmals unter die genannte Quelle zu stellen.

Allein er fand weder Quelle noch Sand mehr, so eifrig er auch danach suchte und so oft er auch früher bei dieser Quelle getrunken hatte.

Quelle: Christian Hauser, Sagen aus dem Paznaun und dessen Nachbarschaft, Innsbruck 1894, S. 13 ff., zit. nach Sagen aus Tirol, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1992, S. 211 - 213.