Von den "Wilden" im Sammnaunthal [Samnauntal]

Bei der Gstalder Mühle in Spiss ist eine Höhle, das Fanggenloch genannt, in die sich früher niemand hineingetraute. Denn dieses Loch war die Behausung der wilden "Mannlen" und wilden "Fräulein". Einige der wilden Fräulein kamen oft hervor zu den Bauernhöfen und halfen den Bäurinnen überaus emsig auf den Äckern jäten. Auch die wilden "Mannlen" nahmen hie und da auf einige Zeit Dienste bei den Bauern. Ein solches wildes Mannl hütete in Spiss viele Jahre die Ziegen. Morgens wartete er außer dem Dorfe, bis die Ziegen herausgetrieben wurden, und abends gieng er mit seinen Thieren [Tieren] wieder bis zum Dorf zurück. Hinein war er nicht zu bringen. Aus Dankbarkeit ließen ihm die Spisser ein rothes [rotes] Röcklein machen. Er zog es an, betrachtete sich von rechts und links, strich sich auf und nieder und rief:

"Pipimann, nimmer hüten kann!"

Von da an sah man das Mannl nie mehr.

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Sie konnten aber auch ein wenig boshaft sein, die Wilden. Manchmal hängten sie zwei Kühe an eine Kette, oder in der Früh stak der Kopf einer Kuh außer dem spannhohen Stallfenster. Weil man ihren Kopf nimmer hineinbrachte, lachte dann das wilde Mannl, das in der Nähe lauerte, hell auf. In den Kellern stellten
die wilden Mannlen die Milchmeltern so übereinander, dass der Schwerpunkt der oberen außerhalb der Grundlage zu stehen kam. Wollte nun die Bäuerin die Meltern herabnehmen, da rumpelten alle durcheinander herab, und Rahm und Milch waren auf dem Boden. Ließ man aber alles so stehen, dann brachte das Mannl die Geschirre selber wieder in Ordnung.

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Der Gemsenjäger Turness aus Noggls, der mit seinem Hunde des Weges kam, sah ein wildes Mannl, das über und über mir Moos bewachsen war, aus einem Reisighaufen hervorkriechen. Das Mannl rief: "Hättest du nicht dein Feuereis und deinen Hundbeiß, wollt' ich dich lehren schießen meine Vorgeiß! In einem Jahre komm wieder, dann sag' ich dir, was man aus dem Tschotten (Quark) alles machen kann."

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Bei einem Schuster schaute eine Wilde mit einer langen Nase zum Fenster hinein und fragte: "Schuster, wie gefällt dir meine Nase'?" Der Schuster schlug mit seinem Leisten auf ihre Nase und fragte entgegen: "Fangge, wie gefällt dir mein Leisten?" "Wenn zwischen uns nicht ein Kreuzstock wäre," schrie die Wilde zornig, "so würde ich dich schon auszahlen!"

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Diese wilden Mannlen und Fräulein waren aber lauter Heiden, und wer sie hätte bekehren wollen, dem wäre es übel ergangen. Vom Christenthum [Christentum] wollten sie nichts wissen. Als in Samnaun eine Kirche erbaut worden war und zum erstenmal die große Glocke läutete, sah man die Wilden mit den Wiegen auf dem Rücken weinend und wehklagend über Söblis gegen Ischgl auswandern.

Quelle: Volkssagen, Bräuche und Meinungen aus Tirol, gesammelt und herausgegeben von Johann Adolf Heyl, Brixen 1897,
Nr. 26, S. 23f