Der Scheibenstock

In Nauders hört man heute noch oft den Spruch: "Du bist ein Scheibenstock." Das hört man zu Jungen sagen, die böse Streiche ausführen.

Es soll vor einigen Jahrhunderten in Nauders einen Mann gegeben haben, der sehr böse Streiche aufführte. Schon als Bub soll er ganz gerieben gewesen sein und sich häufig beim damals durchziehenden Volke aufgehalten haben. Bei diesem lernte er alle Künste und Schelmenstreiche. So kam es, daß ihn mit der Zeit alle fürchteten. Der Bettelrichter mit dem Gerichtsdiener mußte ihn einfangen und im Schlösse in der Keuche (Kerker) einsperren. Tags darauf war er verschwunden und führte bald im Orte bei Tag und Nacht noch die böseren Streiche auf. Bettelrichter und Gerichtsdiener waren hinter ihm her und konnten ihn nicht einfangen, obwohl sie ihn oft sahen. Im Dorfe aber wollte ihn niemand gesehen haben, und bald brach die Meinung durch, daß er sich unsichtbar machen könne. Nun gab der Pfleger einen gar strengen Befehl:

"Alle Leute sind verpflichtet, wo immer sie den Mann sehen, es sofort anzuzeigen, und wenn zwei oder mehrere Leute ihn gleichzeitig sehen, den Mann zu verfolgen, ihn zu ergreifen und einzuliefern."

Jeder Hirte wurde von diesem Befehle verständigt und für die Ergreifung eine Prämie von 15 Gulden ausgesetzt. Im Schlosse wurde vom Pfleger befohlen, in die Keuche am Dachboden einen sehr großen Stein zu geben, Ketten daranzuschmieden und zwei Ringe am Boden anzubringen, damit der Bösewicht, sobald er eingefangen werde, nicht mehr entweichen könne.

Eines Herbstabends, als gerade der Schäfer am Bazallerkopf seine Schafe zufammengetrieben hatte und in der Hütte für sich und den Hirtenbuben das Nachtmahl bereiten wollte, kam der gefürchtete Scheibenstock und bat, bei ihm übernachten zu dürfen. Der Hirte lud den Mann ein, mit ihm das Nachtmahl zu teilen, und da er für den abzukochenden Brei zu wenig Wasser hatte, schickte er den Hirtenbuben zum Bache, der eine Stunde weit entfernt war. Er trat mit dem Buben, unter der Entschuldigung, daß er noch nach den Schafen sehen müsse, aus der Hütte und instruierte ihn, zu laufen, was er nur könne, bis er den Partitschhuf erreiche. Dort solle er sagen, daß heute Nacht der Scheibenstock bei ihm übernachte und sofort wieder umkehren und das Wasser bringen. Dies solle so schnell geschehen, daß es der Scheibenstock nicht merke. Unterdessen versuchte der Hirte, dem Scheibenstock durch allerlei Erzählungen die Zeit zu verkürzen. Der Bub aber kam noch immer nicht, und der Hirte, voller Angst, machte dem Scheibenstock vor, es könne dem Buben bei der Valdigestei (ö) -Schlucht etwas passiert fein, er wolle ihn suchen. Da sagte der Scheibenstock:

"Nein, du bleibst hier!" und ging selbst, um den Buben zu suchen.

Einige hundert Schritte Weges von der Hütte entfernt, traf der Scheibenstock den daherlaufenden Buben und stellte nun alle möglichen Kreuz- und Querfragen an ihn. Der Bub war aber sehr schlau und erzählte, er habe zweimal mehr als den halben Weg wieder zurück müssen, da er den Steig in der Dunkelheit verfehlt habe, über einen Stein gefallen sei und das ganze Wasser sich über ihn ergossen habe. Das zweitemal sei ihm auch der Wassereimer hinuntergekollert, und zum Glück habe ihn ein großer Stein aufgehalten, sonst hatte er überhaupt kein Wasser mehr bringen können.

"Greift mich nur an", sagte der Bub, "ich bin ganz durchnäßt."

In Wahrheit war der Bub beim Überschreiten des Labaunerbaches ins Wasser gefallen. Der Scheibenstock glaubte dem Buben. Es wurde das Nachtmahl verzehrt, und alle drei legten sich zur Ruhe. Nach drei Stunden kamen der Bettelrichter und der Gerichts-diener mit acht handfesten Bauern. Der Scheibenstock wurde gefesselt und auf einem Schleifwagen zu Tal gebracht. Im Dorfe erwartete ihn schon jung und alt, und er soll fortwährend den Kindern zugerufen haben:

"Werft Erde auf mich!"

Die Leute glaubten nun, wenn er Erde erreicht, würde er sich sofort von den Fesseln befreien können, darum verbaten sie den Kindern strenge, ihm Erde zu reichen oder diese auf ihn zu werfen. Ins Schloß gebracht, wurde der Mann nun in der Dachbodenkeuche an den Stein geschmiedet, bis er beim Hochgericht gehängt wurde. Ring, Kette und Stein waren in dieser Keuche noch lange zu sehen. Die Keuche besteht noch und heißt die Scheibenstockkeuche. Seit dieser Zeit heißt man in Nauders noch heute einen bösen Buben "Scheibenstock".

Quelle: Tiroler Heimatblätter, Mitgeteilt von Hermann von Tschiggfrey, 1936, Heft 2, S. 72f