DER SCHLANGENBAUM

An einem Orte hatten die Leute arg unter giftigen Schlangen zu leiden. Man versuchte allerhand, diese Plage zu beseitigen, doch alles half nichts. Da kam einmal ein Kapuzinerpater in jene Gegend. Er hörte von der schrecklichen Plage und ließ sich herbei, die giftigen Beißwürmer zu verbannen. Er machte ein großes Feuer, stellte sich in einiger Entfernung auf und betete. Da tat es einen Pfiff und heransauste ein großer, schneeweißer Wurm mit einem goldenen Krönlein auf dem Kopfe, mandelte vor dem Pater auf und geiferte mit seiner spitzigen Doppelzunge gegen ihn. Der Pater aber ließ sich nicht drausbringen, betete noch eifriger und machte das Kreuz über den Schlangenkönig. Wirklich mußte dieser sofort umkehren und ins Feuer kriechen, wo er elend zugrunde ging. Dann aber kamen eine Unmenge Schlangen von allen Seiten heran und sausten zischend ins Feuer. So viele waren es, daß die Flammen beinahe auslöschten. Als nun auf diese Weise alle Schlangen in jener Gegend vertilgt waren, sprach der Pater eine geheimnisvolle Prophezeiung aus: An dieser Stelle, wo das Feuer die Schlangen versengt hat, wird ein Baum wachsen; wenn der Baum groß ist, wird man Bretter daraus schneiden, aus den Brettern wird man eine Wiege machen und ein Kind hineinlegen. Dieses Kind wird ein Geistlicher werden und der wird auch wieder die Macht haben, Schlangen zu bannen."

Falkner, Christian, Sagen aus dem Ötztal, in: Ötztaler Buch (= Schlern-Schriften 229), Innsbruck 1963, S. 175
aus: Sagen und Geschichten aus den Ötztaler Alpen, Ötztal-Archiv, Innsbruck 1997