DER GEIST IM GERICHTSHAUSE

Irgendwo stand ein altes Gerichtshaus unbewohnt, obwohl es noch gut erhalten war. In diesem Haus trieb nämlich ein Geist sein Unwesen und so kam es, daß sich niemand getraute, darinnen zu bleiben. Da waren in jenem Orte zwei junge, brave Leute, die gern geheiratet hätten. Doch sie besaßen weder Haus noch Feld. Die Gemeinde hatte Erbarmen mit ihnen und schenkte ihnen dieses alte Gerichtsgebäude unter der Bedingung, daß sie dort wohnen wollten. Der Mann bekam den Geist nie zu sehen, dafür aber die Frau alle Tage. Es kam ein altes Weiblein zu ihr in die Küche, half ihr bei der Arbeit, doch redete es nie auch nur ein Wörtlein. Da bat sie den Geistlichen um Rat. Der konnte aber nichts machen, weil er den Geist nie zu sehen bekam. So kam er zur Überzeugung, daß nur die junge Frau allein den Geist erlösen könne und riet ihr, sie solle das Weiblein, wenn es wieder komme, anreden und sagen: Was fehlt denn mir?" Die Frau nahm sich also ein Herz und sprach zum Weiblein: Was fehlt denn mir?" Sie erhielt keine Antwort. Da fragte sie noch einmal: Was fehlt denn mir?" Wieder keine Antwort. Erst auf die dritte Frage antwortete das Weiblein: Dir fehlt nichts, aber mir; und du kannst mir helfen." Dann winkte der Geist der Frau, sie solle mitkommen. Sie stiegen nun mitsammen hinab über die Kellerstiege. Hinter der Kellertüre kratzte das Weiblein den Boden auf. Da kamen drei Kisten zum Vorschein. Sie waren alle voll Geld. Dann sagte der Geist: Eine gehört den Armen, eine dir und deinem Mann und die dritte dem Gerichte. Ich habe nämlich in jenen Zeiten, als dies Haus noch als Gerichtsgebäude benützt wurde, hier gewohnt und mir auf unrechtmäßige Weise Geld auf die Seite geschafft. Und dafür mußte ich so lange büßen, bis du mich durch deine dreimalige Frage erlöst hast." Auf das hin war der Geist verschwunden und nie mehr gesehen. Das junge Ehepaar aber konnte mit diesem Gelde ein sorgenfreies, glückliches Leben führen.

Falkner, Christian, Sagen aus dem Ötztal, in: Ötztaler Buch (= Schlern-Schriften 229), Innsbruck 1963, S. 176
aus: Sagen und Geschichten aus den Ötztaler Alpen, Ötztal-Archiv, Innsbruck 1997