Der Glockenthurm [Glockenturm]

Sage vom Entstehen des Oetzthaler Ferners.

"In der Stadt Tannenee
Au weh!
Fällt da Schnee
Und appert nimmameh!"
[Und schmilzt nie mehr]
(Bauernspruch.)

Seht ihr dort am Fernereise
Den krystall'nen [kristallenen] Glockenturm?
Hört, es klingt die alte Weise
Geisterhaft im Wettersturm.
Oben strahlt die Glockenkrone,
Mahnend unser arm' Geschlecht,
Roher Willkühr [Willkür] fast zum Hohne:
Gott der Richter ist gerecht!

Wo die Berge jetzt
Ew'ges Eis, und ew'ger Schnee,
Dort im Reich der Gletschermassen
Lag die Stadt von Tannenee 1);
Warm vom Sonnenlicht umwoben.
Im smaragd'nen Riesenkranz
Sprang der Nach von Felsen oben
Silbern ab im Nebeltanz.


Traulich kam das Volk mit Flügeln,
Das Gethier [Getier] vom Wald herein.
Wohnte zahm auf Blumenhügeln,
Kehrte gern bei Menschen ein.
Fast ein Himmel war die Erde;
Gems und Steinbock zogen aus
Mit den Hirten, mit der Heerde [Herde]
Hin zum braunen Kaserhaus.

O, war das ein Unschuldleben,
Wie's geschaffen Gottes Hand!
Um die Wohlfahrt mehr zu heben.
Herrscht' der Edelste im Land.
Unter hohen Tannenbäumen
Mit den Aeltesten [Ältesten] im Bund,
Saß der Rath [Rat] auf Moosbeet-Räumen
Schlichtend, richtend jede Stund.

"Recht sei Herrscher!" hieß die Satzung,
"Macht, - die sei ihm unterthan [untertan]!"
Armen werde reiche Atzung!
Recht und Lieb' rühr' Keiner an!
Recht und Macht und Nächstenliebe
Bannen mächtig jedes Weh;
Daß die Satzung ewig bliebe.
Ward genannt sie "Tannenee."

Fleiß belohnt mit gold'nen Reizen
Segen, der durchs Kornfeld weht;
Doch die Zeit hat in den Weizen
Unkraut, ach zu bald, gesät.
Stolz und List wuchs auf vom Boden,
Frevelnd tauschte Modetand
Mit dem Ehrenkleid von Loden,
Sitte und der Handschlag schwand.

Statt der Macht von Gott verliehen
Drückt Gewalt ein schwach Geschlecht,
Und - die Friedensgeister fliehen
Mit dem guten alten Recht.
Doch das Volk in der Verblendung
Streut nicht Asche sich auf's Haar,
Baut als Denkmal dieser Wendung
Einen Glockenthurm im Jahr.

An die Wolken Stein auf Steine
Ragt der stolze Thurmkoloß [Turmkoloß],
Und die Glocke, wie sonst keine.
Schwebt in Lüften riesengroß.
Doch ihr Ton war ernstes Wehen
Aus der gold'nen Unschuldzeit,
Wohl blieb mancher Hirte stehen,
Weinte still vor Herzeleid;

Denn nicht Armen ward geläutet
Bei der Tauf - zum Grabesgang,
Hoher Rath hat laut bedeutet:
"Nur für Zahlung gibt es Klang!"
Reichen klang sie täglich munter;
Starben an'dre, arm, im Frost,
Warf man sie ins Grab hinunter
Ohne letzten Glockentrost.

Schnell begann sich Noth [Not] zu rühren.
Mit dem Hunger kam der Harm,
Arme Hirten an den Thüren [Türen]
Betteln Brod - - daß Gott erbarm! -
Abgewiesen von den Reichen,
Zehren sie am Hungertuch,
Sinken sterbend Leich auf Leichen,
Und ihr letzter Hauch war - Fluch!

Da erbeben rund die Mauern
Durch die finst're Todesnacht
Dröhnt die Glocke, hohl mit Schauern,
Und der Schrecken ist erwacht.
Wie die Leute rennen, fragen.
Fällt vom Himmel Eis und Schnee,
Und verschüttet in acht Tagen
War die Stadt von Tannenee.


Ewig todt [tot], dem Licht verloren.
Liegt begraben Stadt und Land,
In der Sündfluth [Sündenflut] starr gefroren.
Und - die Gletscherwelt entstand.
Doch der Thurm mit seiner Glocke,
Mit dem wunderbaren Glüh'n,
Steigt empor aus Eis und Flocke,
Aus den Trümmern hoch und kühn;

Scheint in hartbedrängten Zeiten,
Wenn das Land im Kummer lebt.
In dem Winde Sturm zu läuten.
Mahnend, daß ein Gott noch lebt.
Hoffend beten Hirt und Träger, 2)
Und in Demuth [Demut] steht und spricht
Still der Schütze und der Jäger:
"Rüttle an dem Rechte nicht!"

1) Tannenee oder Taimenê heißt im neueren Sprachgebrauch "Tannenrecht," denn ê war im Mittelalter der Ausdruck für "Gesetz" - "Satzung" - "Bund." So kommt auch im Mittelhochdeutschen vor: Ê-satzung, gleich "gesetzmäßiger Bund," der Christen Ê, gleich "christlicher, kirchlicher Bund." "Din alte ê," vetus testamentum. "Din ê tuon" bedeutete "trauen" u. s. w.
2) D. h.: Die Buttenträger auf den Alpen.


Quelle: Märzenveilchen, Johann Nepomuk von Alpenburg, Innsbruck 1855, S. 8ff