DER GEIST VON INFANG

Eine Viertelstunde innerhalb des Weilers Wald" bei Sölden liegt mitten im tiefen Wald, umgeben von einigen Äckern und Wiesen, ein einsamer Bauernhof: der Infang. Vor etwa 100 Jahren trug sich dort eine aufregende Geschichte zu. Ein Besitzer des Infang hatte einst auf weltewige Zeiten" versprochen, jährlich zwei Messen lesen zu lassen. Er und seine Nachkommen hielten das Versprechen. Doch später einmal verkaufte ein Infanger seinen Hof und damit er größeren Erlös dafür bekomme, verschwieg er die Verpflichtung, die jährlichen Messen lesen zu lassen. Als dieser Mann nach Jahren starb, mußte er auf dem Infangerhof als Geist umgehen, bis die Meßverpflichtung wieder eingehalten wurde. Doch niemand wußte mehr etwas von diesem Versprechen. So mußte der Geist viele, viele Jahre lang am Infang sein Unwesen treiben. Und dieser Geist wurde immer unangenehmer. Kein Mensch wollte mehr im Infang bleiben. Abends nach dem Betläuten fing es an: zuerst klopfte es an den Wänden um das ganze Haus herum, dann fing das Haus an zu schwanken wie ein Schifflein auf dem See. Die Fensterläden wurden ausgehängt und lagen oft weit draußen im Feld. Einmal kam abends, während die Hausleute in der Stube den Nachtrosenkranz beteten, ein großer Vogel durch das Balkele" (Öffnung über dem Stubenofen in die darüber liegende Kammer) herunter, flog zum Licht hin, blies es aus und verschwand. Auch im Stall geisterte es. Wenn der Bauer in der Frühe zum Vieh kam, steckten manchmal zwei Kühe in einer Kette. Dabei war der Stall gut verschlossen, sodaß von außen niemand hereinkommen konnte. Es kam öfters vor, daß der Bauer den Geist zu sehen bekam, doch war er immer ohne Kopf. Der Geist machte bittende, beschwörende und drohende Gebärden, einmal schüttelte er dem erschreckten Manne den Finger vor. Die Sache wurde immer unerträglicher. Da ging endlich der Bauer zum Kuraten in Sölden, um ihn um Rat zu fragen, was da zu tun sein. Der Seelsorger sagte, dieser Geist sei wahrscheinlich die arme Seele eines früheren Hofbesitzers, die wohl noch eine alte Schuld abzubüßen habe. Er solle ihn, wenn er wieder einmal erscheine, fragen: Guter Geist, was ist dein Begehren?" Richtig, es dauerte nicht lange und der Geist kam wieder. Da nahm sich der Bauer ein Herz und fragte, wie der Geistliche ihm geraten hatte. Daraufhin erzählte der Geist seine Schuld beim Hofverkauf und bat ihn inständig, er möge doch die versprochenen Messen wieder lesen lassen. Der Bauer versprach es gern. Da wurde der Geist schneeweiß, fing an zu tanzen und war verschwunden. Er war erlöst. Später wurde im Infang nie mehr etwas vom Geiste gehört und jener Bauer, der ihn erlöst hatte, wurde bald reich und glücklich, während die früheren Hofbesitzer, die die Messen nicht hatten lesen lassen, immer arme Bäuerlein geblieben waren.

Falkner, Christian, Sagen aus dem Ötztal, in: Ötztaler Buch (= Schlern-Schriften 229), Innsbruck 1963, S. 142 f.
aus: Sagen und Geschichten aus den Ötztaler Alpen, Ötztal-Archiv, Innsbruck 1997