Die Saligen Fräulein
Immer wieder begegnet man in den Sagen des Innerötztales den "Saligen Fräulein". Sie sind lichte, den Menschen wohlgesinnte Gestalten, die aber furchtbares Unglück heraufbeschwören, wenn jemand ihren Schützlingen, den Gemsen, ein Leid zufügt.
Ein ebenso reicher, wie kühner Jäger, dem die Gemsenjagd zur Leidenschaft geworden war, mußte dies bitter erfahren. Er hatte auf einem seiner Jagdzüge ein Rudel Gemsen bis ins "Hintereis" verfolgt, als plötzlich ein donnerndes Getöse um ihn war, die Tiere in einem Spalt verschwanden, dafür aber eine schöne Gestalt in goldenem Haare und glitzerndem Gewände neben ihm stand.
"Ich bin Haldiga, eine Schwester der Saligen", hörte sie der erschrockene Jäger sprechen."Du bist in meine Hand gegeben, da du Ruhe und Frieden meines Reiches zu stören wagtest. Wenn du aber versprichst, nie mehr in seine Einsamkeit vorzudringen, so soll Glück über dir, deinem Hause und dem ganzen Tale sein. Andernfalls werde ich grausame Rache üben".
Ein Jahr lang hielt sich der Jäger an das gegebene Versprechen.
Und es wäre ein glückliches Leben für ihn gewesen. Der
Herbst aber ließ seine alte Jagdleidenschaft wieder erwachen. Unwiderstehlich
zog es ihn mit seinem Gewehr über der Schulter den Eisregionen zu.
Als er aber sein zielsicheres Rohr auf einen weißen Bock an der
Spitze eines Rudels Gemsen gerichtet hatte, erhob sich ein furchtbares
Tosen und Krachen ringsum. Die Eismassen erbebten, riesige Schollen lösten
sich, und ungeheure Wassermassen stürzten alles verwüstend zu
Tale. Durchs ganze Oetztal wälzte sich die Flut und noch heute geben
öde Schutthalden Zeugnis von jenem Unheil.
Quelle: Oetztaler Talkunde, Josef Pienz, Imst 1963, S. 61