DIE DREI WILDEN FRÄULEIN AM FERNER

Am Fernerrand lebten einst drei wilde Fräulein. Sie wohnten in einem unterirdischen Palast, der durch eine gemeine Felsgrotte zugänglich war. Die Gemsen waren ihre Haustiere; sie fütterten sie, tränkten und pflegten sie und schützten sie gegen die Jäger. Gegen die Leute waren sie freundlich, kamen zu ihnen in liebenswürdiger Gestalt und gaben ihnen allerlei weise Ratschläge.

Ein junger Hirt kochte einmal vor dem Eingang in ihren Palast sein Mittagessen. Als er fertig war, stand er auf und wollte beten. Dabei schüttete er durch Unvorsichtigkeit die Nudeln in den Schmutz. Als er ganz traurig dastand, sah er auf einmal vor sich ein wildes Fräulein stehen. Die gab ihn eine andere, bessere Speise für die verschüttete. Nach dem Essen nahm sie den Hirten bei der Hand und führte ihn durch die Grotte in den Berg hinein. Wie staunte da der arme Hirt! Wie da alles glänzte und glitzerte von Gold und Silber und Edelstein. Die beiden Schwestern seiner Führerin kamen ihm sehr freundlich entgegen. Sie sangen wunderbare Lieder, sie stellten ihm die feinsten Speisen vor, wie er zuvor nie gesehen und gekostet hatte. Auch sagten sie ihm er könne von nun an kommen, so oft er wolle, doch dürfe er nie einem Menschen auch nur ein Sterbenswörtlein davon erzählen und niemals Gemsjäger werden. Jahrelang hütete der Bub sein schönes Geheimnis; er kam oft zu seinen Freundinnen in den Bergpalast und ergötzte sich dort. Aber einmal entschlüpfte ihm das Geheimnis im Gespräch mit seinem Vater. Er bereute es sofort. Doch es war zu spät. Als er am nächsten Morgen zur Grotte kam, war sie fest verschlossen. Wie er auch flehte und bat, es blieb alles still und steinern stumm. Er magerte nun ab vor Schmerz und Sehnsucht. Die wilden Fräulein ließen sich nicht mehr sehen. Da packte ihn die Verzweiflung. Er ging mit anderen Jägern auf die Gemsen. Als er sein Gewehr auf einen schönen Bock abdrückte, stand auf einmal ein wildes Fräulein in verklärter Schönheit neben dem verfolgtem Tier. Sie warf ihm einen zürnenden Blick zu. Er schwindelte und stürzte geblendet vom Glänze der Erscheinung in den schaurigen Abgrund.

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Murmeltier
Bildarchiv SAGEN.at, Nr. 23350


Ähnlich ging es einem anderen Hirten und Jäger mit den drei seligen Fräulein. Als sein Vater Hirt am Fernerrand war, wollte ihn seine Frau mit ihrem kleinen Buben besuchen gehen. Sie rastete bei einem Wegkreuz und betete dort. Ein mächtiger Adler schoß aus den Lüften nieder und raubte der erschreckten Mutter ihr Büblein und trug es fort dem Gletscher zu. Da geschah es, daß der Adler seinen kostbaren Raub gerade in der Nähe seines Vaters niederlegte. Der vertrieb den Räuber und rettete so, ohne es zu wissen, sein eigenes Kind, denn er hatte es schon seit einigen Monaten nicht mehr gesehen. Freilich waren es die wilden Fräulein, die unsichtbar dem Adler seinen Raum abnahmen. Der Knabe wurde größer, mit ihm auch die Sehnsucht nach den Bergen und Gletschern. Er wurde der kühnste Jäger weitum. Doch einmal verstieg er sich am Rande des Ferners im wilden Gewände, daß er nicht mehr vor noch rückwärts kam. Er rutschte auf einer eisbedeckten Platte aus und stürzte ab. Er wußte von nichts mehr. Doch als er aufwachte, lag er auf Speik und Edelweiß gebettet im Kristallpalast der seligen Fräulein. Sie hatten ihn zum zweitenmal gerettet. Sie pflegten ihn gesund und wollten ihn nicht mehr fortlassen. Er durfte das schönste Leben führen, alles stand ihm zur Verfügung bei seinen lieblichen Retterinnen. Als er nach drei Tagen fortging, mußte er den seligen Fräulein hoch und heilig versprechen niemanden zu sagen, daß er hier gewesen sein. Wenn er sein Versprechen nicht halte, werde es ihm schlecht gehen. Weiters mußte er ihnen versprechen, nie eine Gemse oder ein Schneehuhn, ja nicht einmal ein Murmeltier zu jagen. Auch dürfe er keiner Menschenseele je den Zugang zu diesem Felsenpalast zeigen. Daraufhin ließen sie ihn in eine tiefe Felsenkluft hinab und unten in der Achsenschlucht trat er nach zärlichem Abschied ins Freie. Auch hatten sie ihm mitgeteilt, er dürfe an jedem Vollmondabend auf drei Tage wieder zu Besuch kommen. An dieser Felsenkluft solle er ein Zeichen geben, da werde ihm aufgetan werden. Der Bub kam wie umgewandelt heim, nahm nie mehr ein Gewehr in die Hand, mied alle Unterhaltungen, doch an jedem Vollmondabend war er auf drei Tage verschwunden. Niemand konnte erfahren, wohin er gehe. Seine Gestalt verfiel zusehends, er magerte ab. Auf alle Fragen, was ihm fehle, sagte er, ihm sei ganz wohl. Einmal jedoch schlichen ihm seine besorgten Eltern in der Vollmondnacht nach und als am Rande der Felsenkluft ihn seine Mutter mit Namen rief, da schoben sich die Bergwände zusammen und krachend und polternd stürzten Steine und Geröll nieder. Der Eingang in den Palast war verriegelt. Ganz traurig ging er heim, er siechte kraft- und tatlos dahin. So ging der Herbst und Winter dahin. Doch im nächsten Frühsommer packte ihn die alte Jagdleidenschaft. Am Leben lag ihm nichts mehr. Er lieh sich ein Gewehr und stieg fiebernd vor Jagdlust dem Ferner zu. Endlich erblickte er eine Gemse auf einem Grate stehen. Diese pfiff und verschwand hinter dem Grat. Der Jäger eilte nach und traf drüben über dem Grat auf ein starkes Rudel Gemsen. Eine davon war ihm ziemlich nahe und diese verfolgte er nun unablässig, bis das verängstigte Tier nicht mehr weiter konnte und am Rande eines Abgrundes stillstand. Der Jäger legte an und da hörte er etwas wie eine klagende Mädchenstimme, doch seine Jagdleidenschaft war zu groß, um auf diese Warnung zu horchen, er zielte und schoß. Da umleuchtete ihn ein heller Glanz und vor ihm standen die drei wilden Fräulein und schauten ihn zornig an. Den Jäger überfiel das Grauen, er machte einen Schritt zurück und stürzte in den bei 300 Meter tiefen Abgrund. Steine und Geröll stürzten ihm nach und begruben den Ungetreuen in den Tiefen der Schlucht.

Falkner, Christian, Sagen aus dem Ötztal, in: Ötztaler Buch (= Schlern-Schriften 229), Innsbruck 1963, S. 119 ff.
aus: Sagen und Geschichten aus den Ötztaler Alpen, Ötztal-Archiv, Innsbruck 1997