DIE WILDEN FRÄULEIN IN SÖLDEN

Auch in Sölden gibt es zahlreiche Plätze, wo sich in alten Zeiten wilde Fräulein aufgehalten haben. Im Windach, wo der Freilaskofl" davon seinen Namen hat, auf dem Leiterberge, auf Hamrach und im Gamizlöck hausten sie. Alte Leute wollen noch gesehen haben, wie die schönen Bergfräulein auf den großen Steinen saßen und die Haare kämmten und ihre blendend weiße Wäsche trockneten. So mancher Jäger hatte das Glück, diese herrlichen Berggeister zu schauen. Doch mit dem Jagdglück war es an solchen Tagen vorbei, denn die Gemsen waren die Haustiere der wilden Fräulein, diese aber deren Beschützer. Die meisten Jäger kehrten, wenn sie einmal so ein wildes Fräulein gesehen hatten, sofort um, weil die Jagd für diesen Tag doch aussichtslos war.

Im Windach droben, im Warenkar, soll sich einst folgendes zugetragen haben. Ein wildes Fräulein hatte eine Gemse als Haustier. Während der Schutzgeist eines Tages nicht zu Hause war, kam ein Jäger, sah die schöne Gemse und schoß sie. Als er ins Tal niederstieg, begegnete ihm das wilde Fräulein und fragte ihn, ober er nicht ihre Gemse gesehen habe. Der Jäger kannte sich nicht recht aus, welche Gemse die ihre sei und sagte: Ja, ich habe eine geschossen, doch wem sie gehört weiß ich nicht." Das wilde Fräulein aber sagte ihm, die Gemse, die er geschossen habe, gehöre ihr. Sie war sehr traurig über den Verlust und verfluchte den Jäger. Der aber hatte von dieser Stunde an kein Glück mehr auf der Jagd und auch sonst sei es ihm sehr schlecht gegangen.

Falkner, Christian, Sagen aus dem Ötztal, in: Ötztaler Buch (= Schlern-Schriften 229), Innsbruck 1963, S. 132
aus: Sagen und Geschichten aus den Ötztaler Alpen, Ötztal-Archiv, Innsbruck 1997