DER SILBERNE LÖFFEL

Ein Langestheier, "Simas Andrä", dessen Bruder Josef ich noch gut kannte, hatte sich in Ungarn, wo er in Arbeit stand, in ein schönes Mädchen verliebt, das er häufig besuchte. Als Andrä im Spätherbste in seine Heimat zurückzukehren gedachte und von seiner Geliebten herzlichen Abschied nahm, so gab diese ihm zur bleibenden Erinnnerung an sie einen schönen silbernen Löffel mit. Der Maurer schwieg zu Hause lange von diesem Geschenke, doch am hohen Weihnachtsfeste holte er den Löffel aus dem Kleiderschranke und zeigte ihm seiner Mutter, wobei er dieser auch entdeckte, wer ihm denselben verehrt habe. Jene rieth ihm, er solle vorsichtshalber ja nicht selbst zuerst aus diesem Löffel die Speise nehmen, sondern diese früher dem Hündchen, das sie hatten, daraus reichen. Andrä hatte den wohlmeinenden Rath seiner Mutter befolgt. Und siehe, kaum hatte das Hündchen die ihm in diesem Löffel gebotene Nahrung gefressen, so lief es wie wüthend zur Stubenthüre, und als man ihm diese öffnete, rannte es auf und davon bis nach Ungarn zu Andräs Geliebter, wie dieser im kommenden Frühjahre sich überzeugen konnte.


Quelle: Sagen aus dem Paznaun und dessen Nachbarschaft, Gesammelt und herausgegeben von Christian Hauser, Innsbruck 1894, Nr. 14, Seite 18