Die Fleischbankwände.



Von Hinterbärenbad erreicht man in zwei Stunden das Stripsenioch und in einer weiteren Stunde auf dem von der Alpenvereins-Sektion Neuötting gut angelegten Weg den aussichtsreichen Stripsenkopf, jene hübsch geformte grüne Bergkuppe, die vom Abschlusse des Kaisertales so freundlich herausschaut. Bis hierher sind wir angesichts der großartigen Felsszenerie des westlichen Kaisers gewandert, nun erscheinen mit einemSchritte auf die Jochhöhe auf einmal die gewaltigen Massen des östlichen Wilden Kaisers vor unseren Augen, die sich vom höher gelegenen Stripsenkopf aus gesehen noch imposanter ausnehmen. Besonders fallen von diesen Höhen aus das Totenkirchl und die dahinter aufragenden Fleischbank-Wände auf. An letzteren sieht man Bänder sich fortziehen; es sind dieses Gemssteige. Darauf legte ein Bauer frische Baumrinden, und zwar immer die innere, schlüpferige Seite aufeinander und streute Sand darüber. Wenn nun die Gemsen darauftraten, stürzten sie ab und er holte sie unten zerschmettert als Beute. Eines Tages kamen aber auch seine Schafe an diesen Steig; das Leitschaf trat auf die Rinde, stürzte ab, und die ganze Herde sprang nach, sodaß sie unten wie eine große Fleischmasse im Blute lag. Nach dieser Massenschlachtung soll diese Felspartie den Namen "Fleischbankwände" haben.

Vom Stripsenjoch führt der Weg abwärts über den Wildanger in einer Stunde zur Griesener Alpe, von da in einer halben Stunde zur Fischbacher Alpe und weiter über Griesenau nach St. Johann. Wem aber nichts daran liegt, ein Paar Stunden länger zu marschieren, der versäume nicht die unvergleichliche und hochlohnende Höhenwanderung über den Feldberg und den Scheibenbichlberg zu machen. Hier hat man einen Einblick in den schönsten Teil des Wilden Kaisers: Lärcheck, Gamsflucht, Ackerl, Törlspitzen, Goinger Haltspitzen mit dem ausgedehnten Griesener Kar, aus dessen Mitte sich Mitterkaiser und Kleinkaiser erheben. Die steinerne Rinne, welche zwischen dem Predigtstuhl und den Fleischbankwänden zum großen Ellmauer Tor emporzieht, sowie das Totenkirchl, alle diese Riesenhäupter stehen hier in einem herrlichen Panorama nahe vor uns, in majestätischer Größe zum Himmel emporragend.

Quelle: Sagen aus dem Kaisergebirge, Anton Karg, Kufstein 1926, S. 41f
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Leni Wallner, Mai 2006.
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