Die Gemsenrache auf dem Treffauer Kaiser.



Gerade den schwer zu besteigenden Treffauer hatte ich mir als meine erste Kaiserhochtour in den Kopf gesetzt. Spät nachts kam ich in Hinterstein an und legte mich sogleich zur Ruhe. Ein heftiger Sturmwind weckte mich bald auf, und als ich von meinem Lager aus zum Fenster hinaussah, da bot sich wir ein wahrhaft prachtvolles Nachtbild. Am sternklaren Nachthimmel stand die volle Scheibe des Mondes und beleuchtete mit ihrem magischen Lichte den ruhig daliegenden See und dahinter mein Morgiges Ziel, den Treffauer. Ich warf mich in das Bett zurück und glaubte kaum eingeschlafen zu haben, als der Führer bei der Tür hereinrief: "Guten Morgen! Drei Uhr ist's!" Nun ging es rasch, dahin zum Fuße des Treffauers, dann hinauf, immer von einer Terrasse zur anderen, die kein Ende zu nehmen schienen. Mein Führer immer schweigend voraus und ich stumm hinten drein, so erreichten wir endlich die schneidige Grathöhe. "So," dachte ich "dieses wird der schwierige Grat und der besagte schwierige einstieg sein." Der Führer stieg ruhig ein und weiter, ich stieg nach. Auf beiden Seiten jähe Abstürze sah ich zum erstenmal in meinem Leben von solcher Höhe mit einem eigenartigen, schaudernden Wohlgefühl hinab in die Tiefe einer so großartigen, wilden Natur. Ich war erstaunt, ich vergaß mich selbst, es war Mir wie an einem hohen Festtage da oben, so feierlich', so erhaben ringsum nah und fern die weite große Bergwelt schauend.

Gemsenrache

Dabei mußte ich mich wohl zu wenig in acht genommen haben; denn als ich weiter wollte, gewahrte ich, daß ich für den Fuß keinen Tritt mehr finden konnte. Der Führer, der dies bemerkte, reichte mir mit den Worten: "Willst etwa zum Wilderer-Hans hinab?" lachend die Hand: ein paar Ruck und es ging auf dem Grat langsam
und achtsamer weiter. Ich hatte eine närrische Freude, denn die Ellmauer Haltspitze, die ich photographisch aufnehmen wollte, sah ich ganz nach Herzenswunsch prachtvoll beleuchtet vor mir stehen. Schon war der Grat überstiegen, da bemerkte ich zu meinem Schrecken unter der Halt Nebelmassen, die wie eine Mauer sich heraufschoben; einige Minuten noch und alle meine Freude ist verdorben, alle meine Mühe umsonst. Rasch an die Arbeit, und als ich sie glücklich vollendet, stiegen die Nebelungetüme immer mächtiger empor; ich sah ihrem gespenstigen Treiben neugierig zu, und als ich sie verwünschte, sagte der Führer: "Ja, .der Wilderer-Hans da unten ist ein böser Kerl, wenn der nur jemanden tratzen kann; das war ein ganz verwegener Mensch, der hat nichts gearbeitet, nur gewildert, von dem hat er gelebt. Etwas hat er immer nach Hause gebracht, ob ein Wild oder ein Schaf, das war ihm gleich. Die Gemsen, die hätt' er alle ausgerottet im ganzen Kaiser, aber da war halt auch einmal sein Maß voll. Wieder einmal jagte er auf dem Treffauer einer Gams nach; diese war aber die weiße Rehgams. Als er da über den Grat steigt, springt die Gams auf ihn zu und stoßt ihn hinunter in die Tiefe, wo man ihn mit einem Schüppel weißem Gamsbart in der Hand, zerschmettert aufgefunden hat und wo er noch immer die Leute neckend fortgeistert."

Da seine langen Nebelarme, die nun bald bis zu uns heraufreichten, unseren Abstieg bedenklich zu machen drohten, so zogen wir unter Verwünschungen des Wilderer-Hans vom Treffauer ab. Kaum aber hatten wir die Höhe verlassen, siegte die Sonne über den bösen Gesellen, er drückte und bückte sich, verkroch sich in alle Winkel, und in prachtvollem Sonnenglanze stand wieder Gottes weite herrliche Schöpfung in schönster Klarheit und voller Majestät vor unseren Blicken. Wohlbehalten und hochbefriedigt über das glückliche Gelingen dieser meiner ersten Kaiserhochtour langte ich abends wieder in Hinterstein an.

Quelle: Sagen aus dem Kaisergebirge, Anton Karg, Kufstein 1926, S. 56ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Leni Wallner, Mai 2006.
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