Am Herstein.



Etwas besser ging es einem armen Bäuerlein von Going droben am Herstein. Der Herstein ist eine spitz zulaufende Felsenwand gegen das Kleine Törl zu, hoch oben über der grünen Regalpe, wo Brunellen und Arnika mit der Steinraute wechseln. Das Bergvolk hält diesen Stein besonders in  Ehren und sagt von ihm:

"Schaut der Herstein klar zum Tal,
Bleibt's schön Wetter allemal.
Schleichen die Nebel um den Herstein,
Stellt sich bald trübes Wetter ein."

Umweht vom Dufte der Alpenblumen, genießt man, wie überhaupt auf der Regalpe, so besonders auf dem Herstein eine herrliche Aussicht.

Unser armes Bäuerlein wußte aber, daß dort oben nicht nur eine schöne Aussicht, sondern auch noch andere Dinge zu finden seien, nämIich ein Schatz, und den wollte er heben. Wir können es ihm auch gar nicht übelnehmen; denn er hatte zu Hause sechs gesunde Kinder um den Tisch sitzen und sieben Tage in der Woche die liebe Not zu Gaste. An einem schönen Herbsttage ging er hinauf. Er grub und grub, daß ihm die hellen Schweißtropfen von der Stirne rannen: aber es zeigte sich nichts. Ueberall hartes Gestein, das nichts weniger als hohl klang. Traurig schaute er hinab auf das schöne Tal. "Alles umsonst!" denkt er sich. Aber horch! sind es Gemsen? Nein: ein Rudel Schafe steht oben am Felsenrande. Es sind die lange gesuchten Schafe des reichen Ginsbergbauern. Sie hatten sich über das Kleine Törl an den Nordabhang des Wilden Kaiser verirrt und galten als verloren. Jetzt besann sich das Bäuerlin nicht mehr lange, er machte die Grube zu und trieb die Schafe hinab zum Eigentümer. Und seine Ahnung hatte ihn nicht betrogen; der reiche Ginsberger schenkte ihm zum Lohne ein Schaf. Wie das eben recht kam zur Kirchweihe! Lustig stieg der Rauch aus des armen Bäuerleins Hütte auf und die sechs Kinder hätten noch schönere Wänglein bekommen, würde nicht nach einer Woche wieder Schmalhans Küchenmeister zum  Fenster hineingeschaut haben.
Hans Vogl, Erl

Quelle: Sagen aus dem Kaisergebirge, Anton Karg, Kufstein 1926, S. 64
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Leni Wallner, Juli 2006.
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