Die dicke Huberbäuerin auf dem Schönwetterfensterl und eine lustige Ackerl-Partie.



Es war schon ziemlich dunkel und der Wirtsseppei hatte bereits das Lämpchen angezündet, als ich mit meinem Freunde Mader aus München, dem Führer Kaspar Pirkner und einem Träger beim Veiten im Kaisertale saß und für uns noch immer kein Sternchen aufgehen wollte, das uns weiter führte. Auf dem Tische lag der Buchkasten, der morgen auf der Ackerlspitze stehen sollte. Da kamen dem Hause Schritte nahe und bei der Tür herein trat unser Herr Kooperator. Er hatte gehört, daß wir auf das Ackerl gehen, und da wollte er auch mit; rasch packte er den Buchkasten, den er unbedingt selbst auf die Spitze tragen wollte, in seinen Rucksack, und nun ging es endlich nach Hinterbärenbad, wo wir um 11 Uhr nachts ankamen. Gegen 3 Uhr morgens wanderten wir wieder weiter auf das Stripsenjoch, wo wir von einem herrlichen, prachtvollen Sonnenaufgang freudig überrascht wurden, und hinab zum Wildanger. Dort, wo der letzte Abstieg zur Griesener Alpe über den grasigen Hang der Ruffenleiten hinabführt, bogen wir rechts in ein schütteres Wäldchen ein und kamen in einer Stunde vom Joche durch das große Griesener Tor zu jener Quelle, welche bei trockener Jahreszeit das einzige Wasser in diesem Bereiche ist. Hier hielten wir kurze Frühstücksrast und stiegen dann auf den mächtigen Schuttmassen in etwa fünf Viertelstunden hinauf auf die Höhe des Kars. Nachdem wir den Sattel zwischen Mitter- und Kleinkaiser erreicht, erblickten wir unser Ziel, die gerade vor uns aufragende Ackerlspitze. Von da hielten wir uns etwas rechts über ein breites Schneekar empor, bogen dann nach links um und stiegen in eine Rinne ein, die wir bis unter das Gipfelmassiv verfolgten, wo wir nach rechts in steilem Geschrufe hinauskletterten. Mader war uns von da vorausgeeilt und verschwand zwischen den Felsen, dann aber hörten wir seine freudigen Juchherufe; er war auf der Spitze. Bald kamen auch wir nach, und nun standen wir auf dem Ackerl, der zweithöchsten Spitze des Kaisers, Welche Freude, welcher Jubel, welche Herrlichkeit hier oben bei prachtvollem Wetter! Unser erster Blick galt den glitzernden Gletscherreihen der Hohen Tauern und den reizenden  Talgründen,  dann  erst blickten wir  auf    die
Zacken und Tiefen des Kaisers, der sich von hier aus in abwechslungsreicher Zergliederung in seinen schönsten Formen zeigt. Nun ward Stein gebohrt, der Buchkasten aufgestellt, photographische Aufnahmen gemacht und das Genießbare  in  unseren  Rucksäcken so ziemlich  verzehrt.

Nach langem Aufenthalt dachten wir erst an die Rückkehr. Wir hatten die Spitze weit rechts abbiegend erstiegen und jetzt wollten wir links durch einen Kamin hinab zur Ackerlschneide. Die Zeiit war uns oben auf der Ackerlspitze, dieser wundervollen Höhe, zu rasch entschwunden, sodaß wir, um nicht in die Nacht zu geraten, von der Ackerlschneide weg den geplanten südlichen Abstieg über die Mauckspitze, Niedersessel und Kaisermannsalpe nach Ellmau aufgeben mussten. Nachdem wir auf der Ackerlschneid kurze Zeit gerastet hatten, begann es zu dunkeln, da es schon tief im September war. Der Führer erklärte, er könne uns auch von da in das Griesener Kar hinabführen, um dann in der Griesener Alpe zu übernachten: wir hätten aber eine schwierige Stelle zu passieren. Ein Höhennachttager hätten wir zwar nicht gescheut, aber der leere Magen kommandierte vorwärts, und so ging es hinunter gegen das Griesener Kar. Die Sonne war schon lange hinter den Bergen verschwunden und der aufsteigende Mond beleuchtete bereits mit seinem fahlen Lichte spärlich unseren Weg. Da hielt der Führer plötzlich inne, legte seinen Rucksack ab und holte daraus das Seil hervor. Dann winkte er den jungen Träger heran, legte ihm das Seil um den Leib und schob ihn vorwärts; es galt, eine Felsenspalte zu überschreiten. Der Junge stutzte und rang nach Mut. "Vorwärts!" sprach der Führer, "es fehlt dir nichts, ich halte dich schon gut." Er ging zurück und wieder vor; der Führer schwang mit dem Seil, wie man Pferde zum Gehen aneifert. Der Bursche kratzte mit dem Fuße, aber es wollte nicht gehen. Da gab Freund Mader dem Führer einen Wink, sprang mit einem Halloh hinzu und drüben war er. Wir folgten der Reihe nach und stiegen dann wohlgemut hinab zum Griesen Kar, dessen Mitte wir in später Stunde erreichten. Am sternbesäten Himmel war inzwischen der Mond hoch emporgestiegen und beleuchtete die Riesengestalten des breiten Lärcheck, der wildgezackten Gamsflucht  und  der  hochaufragenden   Ackerlspitze, die abenteuerlichen Zinnen der Törlspitzen, die massige hintere und vordere Goinger Halt mit dem Predigtstuhl, welche hier eine unvergleichlich großartige Rundung bilden. Unter diesem Felsenzirkus zieht sich gleich einer Feststraße das mächtige Griesener Kar herum, aus dessen Mitte sich der steilgestufte Kleinkaiser und der rinnendurchfurchte Mitterkaiser erheben, die ihre langen Schatten gleich, schwarzen Ungetümen weit vor sich hinwarfen. Hier hielten wir, diese nächtliche Herrlichkeit bewundernd, gerne Rast. Ueberall ringsum herrschte in dieser ernsten, erhabenen Abgeschlossenheit die tiefste Rühe, die jedoch auf einmal durch tosendes Gepolter abstürzender Steine unterbrochen wurde. Das tat gewiß wieder die dicke Huberbäuerin auf dem Schönwetterfensterl, welche uns  erschrecken wollte.

Es ist schon lange her, da entstand eines Tages gegen die Mittagsstunde um den Kaiser ein sonderbares Sausen und Rauschen. Alle Leuße sprangen aus den Häusern und Hütten und sahen voll Staunen von Bayern eine weiße Wolke auf den Kaiser herfahren; dann ertönte bei sonst wolkenlosem Himmel plötzlich ein Donnerschlag und gleich darauf erblickte man neben der Ackerlspitze ein riesiges Weib, das, immer kleiner und kleiner werdend, schließlich zu einem Felsblock zusammenschrumpfte und so das Schönwetterfensterl bildete. Man wußte nicht, was dieses sonderbare Ereignis bedeuten sollte.

Abends kam der Leid-Veitl, der als Viehdoktor weitum bekannt war, von Graßau heim und erzählte, daß man dort um 11 Uhr Mittag die dicke Huberbäuerin, die seit ihrem Tode zur Strafe ihres Geizes (Sie soll sogar von einem Kind einen Finger gehabt haben, und so tief sie diesen Finger in die Milch steckte, so dick schlug der Rahm auf) im Hause umgeisterte, ausgesegnet und in den Wilden Kaiser herein gebannt habe, und daß es viel segnen und beten brauchte, bis man sie wegbrachte, endlich, sei sie auf einer Wolke abgefahren. Da die Zeit mit dem erwähnten Ereignisse so genau übereinstimmt, so war es gewiß, daß die dicke Huberbäuerin wirklich dort bei der Ackerlspitze angekommen ist und auf dem Schönwetterfensterl sitzt, wo.sie heute noch Wildschützen und Bergsteiger durch Ablassen von Steinen und lautes Gepolter zu schrecken versucht.
Uns war dieses eine Mahnung zum Aufbruch, und so rasch als möglich eilten wir zur Griesener Alm hinab, wo uns auf unser Pochen der Senner freundlich die Tür öffnete, in seine geräumige Stube führte und reichliche Labung auf den Tisch setzte, der wir unter manchem Scherz über die Erlebnisse des heutigen Tages herzlich zusprachen. Bald aber forderte der Schlaf sein Recht und wir verkrochen uns zu den Schafbuam in das Heu. Unser Schlaf sollte nicht lange dauern. Bei Tagesgrauen war der Hirtenknabe schon beim Zeug, und als er über die Leiter abstieg, rief ihm der Senner schon das Ereignis zu: "Du, heut' Nacht hast bei einem Kooperator g'schlafen." Ein langgetöntes "Geh!" war der Ausdruck seines Erstaunens, und nun eilie er hinaus zu seinen Schafen. Binnen kurzem kam er damit zurück, sprengte neben uns ein Hintertürl auf, und herein stürzte seine Herde, die uns, ringsherum anschnüffelnd, bewunderte. Der Bua klopfte mit seinem Stecken an die Futtertruhe und rief, die noch fehlenden Schafe hereinlockend, aus voller Kehle: "He, lecks, lecks, lecks. He, lecks, lecks!" Indem wir nun über das Stripsenjoch nach Hinterbärenbad in die Heimat zurückkehrten, endete unsere lustige Ackerltour.

Quelle: Sagen aus dem Kaisergebirge, Anton Karg, Kufstein 1926, S. 43ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Leni Wallner, Mai 2006.
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