Das Totenkirchl.



Die wilde Jagd flog, in dräuend schwarze Wolken gehüllt, mit wüstem lärmenden Getümmel eine Wolke verfolgend, in den Lüften daher, und mit einem donnerartigen Gekrache stürzte die weiße Wolke auf den Kaiser hernieder.  Als sich die Wolken zerstreut hatten,  lag  ein Riesenweib tot auf dem Felsen, das Haupt mit dem hoch-geschlungenen Haarknoten herabgesunken und mit Händen und Füßen den Berg umklammernd. Dieses Riesenweib liegt auf dem Totenkirchl, wo deren Gestalt bei leichtem Neuschnee besonders zur Geltung kommt. Auf dem Weg vom Pfandl- bis zum Hinterkaiserhof zeigt sich diese Figur erst nach längerem Schauen,  hat aber das Auge einmal dieselbe gefunden, so ist der Eindruck geradezu erschreckend und unverwischbar, sodaß man dann immer nur das tote Riesenweib auf dem Totenkirchl liegen sieht.

Erblickt man vom Kaisertal oder von Hinterbärenbad aus das Totenkirchl, so sind seine Wände abgeplattet. Wenn man aber vom Stripsenjoch in den Wildanger hinunter kommt und von da die Ostseite des Totenkirchl beschaut, so sieht man von dort seine ungeheuere Zerrissenheit mit ganzen Reihen dolomitartiger Zacken, gleich vielen Türmchen, wovon eine Felspartie besonders einer gotischen Kapelle gleicht. Die durchsichtigen Löcher bilden die Fenster, die hohen Bogen die Portale und die vielen Zacken die Türmchen, von denen einer als Hauptturm in die Höhe ragt.

Gipfel des Totenkirchls
Gipfel des Totenkirchls

In Kössen, so erzählt man, lebte der Sohn eines reichen Bauern mit seinem alten Vater in Unfrieden. Als der Alte zum Sterben krank war, wollte er mit seinem Sohne Frieden machen und ließ ihn ersuchen, zu ihm zu kommen. Der böse Sohn aber kam trotz wiederholter Bitten nicht. Da sprach der Vater im Sterben: "Gut, so werde ich als Toter zu ihm kommen!" Nach des Vaters Tod übernahm der trotzige Sohn das reiche Anwesen als einziger Erbe. Da kam nachts vom Kaiser her eine Feuersäule und zündete das Haus an, sodaß alles verbrannte. Die Leute sagten: "So, jetzt ist sein Vater gekommen!" Er aber entgegnete spottend, sein Vater könne so kommen, so oft er wolle, und er erbaute das Haus schöner denn zuvor und richtete den Stall mit dem besten Vieh ein. Das Feues kam auch wiederum und verbrannte nochmals Haus und Vieh. Nachdem das Haus wieder erbaut und eingerichtet war, verbrannte es abermals und der übermütige Sohn war ruiniert. Die Leute aber im Orte hatten Schrecken, baten einen frommen Mönch, er möge den Vater beruhigen, und dieser verbannte ihn hierauf auf das Totenkirchl, von wo man heute noch seine Trauerklagen hört.


Quelle: Sagen aus dem Kaisergebirge, Anton Karg, Kufstein 1926, S. 33ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Leni Wallner, Mai 2006.
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