Der Totensessel an der Kleinen Halt.



Wenn wir vor der Unterkunftshütte in Hinterbärenbad sitzen und uns die umgebenden Felsungetüme betrachten, so fällt uns vor allem der weit vorstehende, ungeschlachte Koloß der Kleinen Halt auf, an dem wir links eine halbe Rundung von Zackenreihen bemerken, die einen Sessel mit hoher Lehne formieren, und in deren Mitte ein grüner Platz den Sitzpolster bildet. Es ist dies der Totensessel, schon deswegen so benannt, weil er für die hier eingesprengten Gemsen eine Falle ist, aus der sie kaum ihrem Tode entgehen, und auch dem Jäger ein gleiches Los droht, wenn er bei Verfolgung der Gemse den Sprung in den Sessel wagt und ihm nicht Hilfe gebracht wird.

Es war eine finstere, stürmische Nacht, als man im Kaisertal von den Wänden des Wilden Kaisers her jämmerlichen Hilferuf hörte. In den Gehöften wurde es Licht, man ging mit brennenden Pucheln (Kienfackeln) vor die Häuser und gab damit Zeichen, sah aber nirgends eine Erwiderung. Das  Geschrei verstummte  allmählich. Den anderen Tag morgens gingen Jäger und Schäfer auf die Suche, aber ohne Erfolg. Trotz allen Nachforschens konnte man die Ursache jenes Hilferufens nicht erfahren. Nach Jahren kam einmal ein Jäger bei Verfolgung einer Gemse auf den Vorsprung unter der Kleinen Halt und fand da zu seinem Schrecken ein menschliches Gerippe. Da man das nächtliche Jammergeschrei von damals nicht vergessen hatte, so glaubte man, daß sich in jener Nacht hier ein Wilderer verstiegen habe, der von Wetter und Nacht übereilt wurde,  um Hilfe gerufen habe und ermattet und verhungert sei, woher dann dieser Felsvorsprung den Namen Totensessel erhalten hat.


Quelle: Sagen aus dem Kaisergebirge, Anton Karg, Kufstein 1926, S. 33
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Leni Wallner, Mai 2006.
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