Das Almläuten in der Lizum

Hoch oben im Wattentale, schon am Übergang ins Navistal, liegt die Alm Hochlizum, heute eine Vereinsalpe, deren Besitzer den Weidegrund unter sich aufgeteilt haben und - jeder für sich - Ställe und Kaserhütten unterhalten. Die Alpe mit ihren vielen wetterdunklen Hütten bildet gleichsam ein ganzes Alpendorf, das freilich nur sommerlang behaust und bewirtschaftet ist. Ein spiegelklarer Bach rinnt durch das Hochtal und treibt die zum Schlegeln nötigen Wasserräder tüchtig um.

Jahr für Jahr nun trifft es beim gemeinschaftlichen Almabtrieb den einen oder anderen Senner, daß er mit seinem Zurüsten und Räumen nicht fertig wird und als letzter von der Alm abtreibt, oft Tage später. Und mancher zögert im Vertrauen auf gutes Wetter, es beim Abtrieb mit den andern zu halten, und bleibt auf der verlassenen Alm mit seinem Vieh noch eine Woche lang, und noch einen Tag und den andern dazu; aber ein gefährliches Unterfangen bleibt es einmal ums andere, bei dem Hirt und Herde böse zu Schaden kommen können, schneit es über Nacht die Alm ein und Steig und Steg zu. Auch fällt es keinem leicht, selbst wenn das Wetter gut bleibt, auf der abgehausten Alm einsam die Nacht zu verbringen; denn seltsamerweise geistert dann ein heimliches Läuten und Klingeln über die ganze Hochlizum, noch in Hütte und Stall laut zu hören, und um so lauter, je länger eins hinhört. Die Älpler sagen, an diesem Geräusch und Getön sei das Kasermandl schuld; allemal nach dem Abzug der Senner sei das Mandl Herr im Hochtal.

Es geschah nun einmal, daß der Vogler Lois, ein wackerer Bursch und tüchtiger Senn, als letzter mit dem ihm anvertrauten Vieh auf der Alm verblieb; denn das gute Wetter dünkte ihn von einigem Bestand zu sein, und der Weidegrund war noch reichlich grün und würde seiner kleinen Herde Futter genug bieten. In der ersten Nacht, kaum daß der Lois in Schlaf gesunken war, erhob sich lautes Schellengeläut und schreckte ihn vom Lager auf. "Dar Teifl"! stöhnt er und denkt, er habe vergessen, dem Vieh die Schellen abzutun. Verärgert zündet er die Stallampe an und tappt hinüber in den Stall, um den versäumten Dienst zu tun und sich und dem Vieh Ruh zu verschaffen. Aber im Stall findet er alles in Ordnung; die Schellen sind versorgt, groß und klein, hängen sie an der Wand, nicht eine fehlt, und so stille ists, daß er die Tiere atmen hört. Der Lois schüttelt den Kopf und schilt über den dummen Traum, der ihn aus dem Schlaf gerissen habe; tappt also wieder in seine Kammer zurück und legt sich nieder. Aber kaum daß ihm die Augen zufallen, hebt
das Klingen und Läuten wieder an, und der Lois, abermals wach geworden, liegt da und horcht und nimmt es ganz deutlich wahr. Fluchend räkelt er sich hoch vom Lager, stapft wieder in den Stall und sagt sich im stillen: Die Kühe schlagen mit den Schwänzen gegen die Glocken an der Wand; wirst sie höher hängen, dann lärmt es dich nicht wieder aus der verdienten Ruh! So hängt er nun Stück für Stück die Schellen aus dem Bereich der Kuhschwänze, brummt, er hätte gleich das erstemal dran denken sollen, und kriecht wieder unter die Decken. Allein er hat sich auf seiner Schlemm noch nicht recht ausgestreckt, da geht -- der Teufel hol's! - das verwünschte Geläute wieder los. Einen Augenblick lang starrt der Lois dumm in die Finsternis, dann kratzt er sich den Schädel und auf einmal fällt ihm ein, was er die alten Hirten hat reden hören: Das Kasermandl läutet die Hütezeit aus. Das ist's, nickt der Senn vor sich hin, schlägt das Kreuz, betet ein paar Vaterunser, zieht sich die Decke über die Ohren und schläft seinen dreimal unterbrochenen Schlaf nun unbekümmert weiter.

Später als sonst wacht der Lois am Morgen auf, und wie er sieht, der helle Tag ist da, springt er vom Lager und beeilt sich, nach dem Vieh zu sehen. Nichts mehr hält ihn auf der Alm, nieder ins Tal will er sein Vieh treiben, so schnell er damit zuwege kommt. Wider Erwarten findet er den Stall leer, aber zum Verwundern bleibt ihm keine Zeit, denn von draußen herein dröhnt das Gemuhe und Gebrüll der Kühe, fordernd und drängend. "Die hat das Kasermandl ausgetrieben!" sagt sich der Lois und macht sich ans Melken. Zwischendurch wirft er einen Blick nach dem Himmel - umzuschlagen droht das Wetter, er kennt seine jähen Launen, und da verschnauft der Senn nicht eher, als bis er seine Herde hinausführt aus der Alm, hinab ins Tal.

Am Nachmittage dann ist der Nebel eingefallen und tags darauf, nach einer stürmischen, kalten Nacht, hat Neuschnee die Hochlizum zugedeckt, bis herunter zu den tiefsten Asten.

Der Lois ist in späteren Jahren Besitzer des schönen Vöglerhofes am Vögelsberg geworden. Seinen Sennern soll er, eingedenk der Mahnung des Kasermandls in der Hochlizum, sein Lebtag lang eingeschärft haben, den Almabtrieb nie hinauszuzögern, und sollten die Maulwurfshügel offen liegen und die Blindschleichen bergwärts kriechen.

(Alpenburgs Mythen und Sagen, 1857, nacherzählt.)

Quelle: Sagen aus Wattens und Umgebung; gesammelt von den Schulkindern in Wattens und Wattenberg. In: Wattener Buch, Beiträge zur Heimatkunde von Wattens, Wattenberg und Vögelsberg. Schlern-Schriften 165, Innsbruck 1958. S. 309 - 326.