Der Normergeist

In früheren Tagen war es beim "Normer", einem Bauernhof am Wattenberg, nicht recht geheuer. Ein Hausgeist trieb dort zu nächtlicher Stunde sein Unwesen, und der Bauer hatte Spott und Schaden davon. Wenn aber im Anger die Obstbäume voll reifer Äpfel und Birnen hingen, und wer des Weges kam, begehrliche Blicke darauf warf, dann wachte der Geist darüber, daß sich nachts keine Diebsseele daran vergriff. In solchen Zeiten fand der Bauer den Schabernack reichlich aufgewogen, den ihm sein heimlicher Hausgenosse sonst das Jahr über mitspielte.

Einmal gedachten zwei Wattenberger Bauernburschen, der Buh Luis und der Mehrer Marti, trotz dem Normer Wächter es sich gütlich zu tun im Fiühbirnbaum des Bauern. Die Birnen waren reif, das hatten sie beim Kirchgang gesehen und waren schnell übereingekommen, den schwer tragenden Baum des Nachts zu erleichtern. Da saßen sie nun in seinem Geäst und stopften ihre Taschen voll. Der Marti, fertig damit als erster - er hatte die längeren Finger -, pflückte noch eine runde, übergroße Frucht, um sie frisch vom Zweig weg zu verkosten, wo nach ihm schon die ganze Zeit das Maul wässerte. Hub da nicht plötzlich eine Glocke zu läuten an, laut und lauter, obgleich kein Dach des Normer Gehöfts eine trug? Jäh schrieen die Elstern auf, und die Diebe, ängstlich Ausschau haltend, sahen: da kam über den Obstanger, und geradewegs auf sie zu, ein schwarzes Wuzlwesen herangetorkelt. Im gleichen Augenblick fielen sie aus dem Baume und rannten Hals über Kopf davon. Zu spät merkten sie, daß ihre Flucht mitten durch den unheimlichen Bereich der Normer Kapelle führte. Hier mußten sie beim nächsten Sprung auf ihn stoßen und - aufschreiend warfen sie sich zurück - quer vor ihrem Weg, da lag er, ein schwarzer, plumper Mann, ohne Kopf; weiß Gott, wo der ihnen vor die Füße rollen würde! Sie brachen nach der Hangseite aus, sahen im Vorbeirasen, wie sich das Unwesen mit einem Ruck erhob und ihnen nachsetzte. Blindlings durch dick und dünn rannten sie zutal.

Beim Mehrerstall endlich, in den sie mit ihren letzten Kräften hineinstürzten und schnell den Riegel vor die Türe warfen, glaubten sie sich gerettet. Hier wollten sie die Nacht verbringen und über den gestohlenen Birnen den Schrecken vergessen. Die hätten sie wohlverdient, meinte der Luis, aber kaum war ihm das Wort entfahren, gab es einen Krach, daß der Stall in seinem Gebälk ächzte und knarrte und auseinanderzubrechen drohte. "Der Geist ist da!" schrie der Martl. "Wirf ihm außi d'Putzen, wanns ihn schon ruin!" Mit fliegenden Händen warfen die Burschen ihre ganze Diebsbeute beim Loch in der Wand hinaus, und als die letzte Birne draußen niederplumpste, da erst hörte das schreckliche Gelärme auf. Der Normergeist hatte sich einmal mehr als getreuer Wächter gezeigt und losen Gesellen das Diebsgelüst ausgetrieben. Der Luis und der Marti haben sich nie wieder an fremden Äpfeln und Birnen vergriffen, mochten die sommer- und herbstlang noch so sehr locken.

Quelle: Sagen aus Wattens und Umgebung; gesammelt von den Schulkindern in Wattens und Wattenberg. In: Wattener Buch, Beiträge zur Heimatkunde von Wattens, Wattenberg und Vögelsberg. Schlern-Schriften 165, Innsbruck 1958. S. 309 - 326.