DIE SALIGEN FRAUEN UND DER WILDE MANN

Unter den mythischen Wesen in der Sagenwelt Tirols nehmen die saligen Frauen wohl die erste Stelle ein. Ihre Königin war Hulda, die personificierte Wolke, die Segnerin der Fluren und des Fleißes in Feld und Hütte. Sie spann mit ihrem lieblichen Gefolge jene nie endenden Zwirnknäuel, mit denen die Saligen oftgottesfürchtige Bäurinnen oder brave, fleißige Dirnen beschenkten. In die Häuser, in welche sie einkehrten, brachten sie Wohlstand, Glück und Segen, heilten hoffnungslose Kranke, und unterrichteten die Mädchen besonders in der Flachswirtschaft.

Allein in den düsteren Schluchten des Hochwalds hauste der wilde Mann, ein gewaltiger Riese, welcher alle saligen Frauen mit tödlichem Hasse verfolgte. Vor seinen Nachstellungen waren sie nur auf einem Flachsfelde, bei einem Wegkreuze oder auf einem Baumstrunke, in welchen die Holzfäller drei Kreuzchen eingehauen hatten, sicher.


Quelle: Sagen aus Innsbruck's Umgebung, mit besonderer Berücksichtigung des Zillerthales. Gesammelt und herausgegeben von Adolf Ferdinand Dörler, Innsbruck 1895, Nr. 1, Seite 1