DIE "WILDE FÜHRE"

Sie waren bis tief in die Nacht im Gasthaus gesessen. Einer erzählte von der "Wilden Führe", die in der Dreikönigsnacht durch den Mellitzgraben herunterrase und um Mitternacht Mensch und Tier Schaden zufüge. Es kam zu einer Wette, wer sich in der Nacht unter der Mellitzbrücke zu sitzen traue, um zu sehen, ob die uralte Geschichte von der Perchte wahr sei. Ein junger Bursche, vom Schnaps ermutigt, wettete einen Liter, er werde sich unter die Brücke setzen. Weihnachten war vorüber, der Feierabend zu Dreikönig gekommen. Der junge Mann mußte seine Wette einlösen. Zwei Freunde begleiteten ihn bis zum alten Graben, um Zeugen seines Mutes zu sein.

Die letzten hundert Meter des ansteigendes Weges wurde der junge Mitteldorfer schon ein wenig knieweich. Er redete sich Mut zu, stieg in den Graben hinunter und setzte sich auf einen Pfeiler der hochgespannten Holzbrücke. Und tatsächlich, genau zur Mitternacht, in Virgen schlug die Turmuhr zwölf, da kam ein Brausen und Heulen, ein wildes Durcheinander von Stimmen und ein Sturmwind den Graben hinunter. Eine häßliche Frau mit Feuer in den Augen ritt auf einem Besen der "Führe" voran. Der junge Mann duckte sich, doch im nächsten Augenblick stand die Perchte vor ihm und hieb ihm ein glühendheißes "Hackl" mitten ins Knie. Rasch, wie er gekommen war, entschwand der Zug der Perchten. Es war wieder still, nur ein Schwefelgestank hatte sich in der Brücke verfangen. Vom Schreck erholt, wollte der Mitteldorfer aufstehen und rasch heimlaufen. Da bemerkte er sein gelähmtes Bein und das "Hackl" mitten im Knie. Er schrie um Hilfe, die beiden Freunde kamen erschreckt zur Brücke und führten ihn heim.

Kein Pfarrer konnte ihm helfen und auch kein Arzt, nur eine alte Kräuterfrau wußte Rat: Er müsse sein Leiden auf Grund seines Übermutes ertragen. In der nächsten Dreikönigsnacht möge er unter der Brücke warten, bis die "Führe" wieder daherkäme und ihm das "Hackl" aus dem Knie nehme. So tat er, und so war es auch. Die "wilde Führe" brauste heran, die Perchte auf dem Besen griff nach dem "Hackl", und der junge Mann war vom bösen Zauber erlöst.

Quelle: Virgen im Nationalpark Hohe Tauern, Louis Oberwalder, Innsbruck 1999, S. 265