IM JAMMER

In sehr früher Zeit war Virgen eine große Pfarre, die größte weitum. Prägraten und das innere Defereggen gehörten dazu. Wo die drei Wege zusammenkamen, aus St. Jakob durch die Mullitz, aus Prägraten durch die Stegachklamm und aus dem breiten Virgental, da entstand ein stattliches Dorf mit einer schönen Kirche. Wettergute Jahre und der Handel brachten Wohlstand. Die Leute aber waren immer weniger gottesfürchtig. Sie hielten keinen Sonntag, keinen Fasttag, und die Liederlichkeit ging durch das Tal. Der Pfarrer predigte vor halbleeren Bänken, und der Opferstock war immer leer. So ging das viele Jahre. Im Übermut meinten die Leute, der Himmel hätte Gefallen an ihrem Tun, er segnete sie ja mit Wohlergehen. Da kamen unerwartet Jahre mit viel Winterschnee und naßkalten Sommern. Das Getreide verschimmelte auf den Feldern. Späte Schneeschmelze und schwerer Regen brachten vielerorts Vermurungen und Hangrisse.

Virgen, Tirol

Virgen, Tirol
mit freundlicher Genehmigung von der Gemeinde Virgen zur Verfügung gestellt
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In der Not scharten sich die Leute um den Pfarrer, der zu einer großen Wetterprozession aufrief. Sie endete mit einem Gottesdienst. Ein Teil der Leute nahm des Pfarrers Aufruf ernst. Die anderen lachten über die Angsthasen und grölten in der Kirche, nachdem sie den in der Sakristei aufbewahrten Meßwein ausgetrunken hatten. Schlagartig erstarrte ihr Übermut in Schrecken, als plötzlich mächtiges Tosen und Donnern aufkam und rasch näher rückte. Eine riesige Mure begrub in weniger als drei Vaterunser die Kirche mit den dort verbliebenen Leuten.

Weiter erzählt die Sage, daß der Großteil des Dorfes zerstört wurde und die Überlebenden sich talauswärts niederließen. Wenn aber im Sommer ein schweres Unwetter den Mullitzbach in eine reißende Mure verwandelt, hört man am "Jammer", wie der Platz jetzt hieß, ein dumpfes Läuten wie von einer fernen Glocke. Später hätten Hüterbuben im Spiel einen kleinen Schacht gegraben. Sie stießen auf Geröll und mittendrinnen auf ein handgroßes Loch. Als ganze Ruten im Loch verschwanden, warfen sie Steine hinein und hörten erst sekundenlang danach das Aufschlagen in großer Tiefe.

Wenn der Abendwind am Jahrestag des schlimmen Geschehens durch die Wipfel der Bäume streicht, hören heute noch die am Waldrand Vorübergehenden stöhnende Hilferufe unerlöster Seelen. Dann bekreuzigen sie sich und gehen raschen Schrittes aus dem "Jammer".

Quelle: Virgen im Nationalpark Hohe Tauern, Louis Oberwalder, Innsbruck 1999, S. 263