Ausklang - Die Erzähler

Aus allen herangezogenen Erzählungen und Sagen, aus den schon halb verklungenen Mythen und Überlieferungen, aus den seltsamen Bräuchen, Sitten und Rechten, aus den damit verbundenen Berg- und Flurnamen leuchtet ein anschauliches Bild der Vergangenheit, die im Volke unbewusst und doch als ein heiliges Vermächtnis weiterlebt und, soweit wertbeständig, weiterleben soll.

Immer und überall spürt man den Hauch der Volkslebendigkeit. Die Zeit ist an ihr nicht spurlos vergangen; sondern vielmehr hat sie ihre Züge langsam, aber oft tief in Namen, Dichtung und Brauchtum eingegraben.
Wenn auch Jahrtausende entschwunden und verflüchtigt sind wie eine Wolke im Winde, wenn die Weltereignisse über das Land gebraust sind und diesem schwere Wunden geschlagen haben, wenn alle Herrlichkeit und Größe vergangener Zeiten in Staub und Vergessenheit gesunken ist, so haben sich doch noch beim einfachen Volk der Bergbauern alte, große Erinnerungen in zäher Anhänglichkeit an Grund und Boden, Herkommen und Recht wie ein steinern Denkmal erhalten. Und alles, was uns Sagen und Bräuche, Flur- und Bergnamen als älteste und oft einzige Quellen der Volksgeschichte erzählt und überliefert haben, all dies stellt nichts anderes dar als ein Abbild des alten Lebens und der ältesten Kultur in den Bergen — mit kurzen Worten:

Eine Erinnerung an unsere Vorfahren und ein Bild der eigenen Art.

Die Erzähler:

Die Geschwister Zach Nanne und Zach Seppi von Steinach seien an erster Stelle genannt. Beide sind noch in der alten Zeit aufgewachsen und mit der alten Zeit verwachsen. Ihre Erzählungen haben sie zum Großteil von ihrer Mutter, die um 1925 im hohen Alter von über 90 Jahren gestorben ist. Zach Nanne ist 1947 gestorben. Zach Seppi ist im Mai 1938 infolge der Kriegsstrapazen gestorben!

Viele Sagen und Geschichten weiß die etwa 84jährige Schwester des Erbhofbauern Hofer, namens Katharina Wieser, vulgo Hofer Kathl; gestorben Mai 1948.

Ein kerniger Wipptaler Bergbauer, ein Gamsjäger nach altem Schlag — er wäre auch nicht beleidigt, wenn man den Ausdruck Wilderer gebrauchen wollte! — ist der Fürstbauer von Vinaders, heute gegen 70 Jahre alt. Mit etwa 16 Jahren hat er die erste Gemse erlegt. Getreu hat er im Weltkrieg sein Vaterland verteidigt. Ihm verdanke ich besonders viele alte Erzählungen über das Obernberger Tal.

Ein unermüdlicher Erzähler, dessen Gedächtnis trotz seines hohen Alters erst jetzt etwas unsicher wird, ist der 89jährige Lutzerbauer, namens Franz Saxer, von Vals. Sein Großvater ist 99 Jahre alt geworden. Er war ein verwegener Freiheitskämpfer 1809 und Wilderer. Der jetzige Enkel hat ihn noch gut gekannt. Er stellt das einzige Beispiel dar, dass ein noch lebender Tiroler einen Teilnehmer an den Freiheitskämpfen 1809 gekannt und von ihm die Erzählungen über den Krieg vernommen hat. Den ganzen Tag liegt er im Winter auf der Ofenbank und raucht von der Früh bis zum Abend. Im Sommer sitzt er vor der Haustür und sucht mit den vorübergehenden Touristen ins Gespräch zu kommen, † März 1939.

Ungemein geistreich und fast adelig vornehm ist Aussehen und Gestalt des 85jährigen Erbhofbauern Franz Lutz, Salzerbauer in Trins. Seit über 300 Jahren ist sein Geschlecht auf demselben Hof. Der Krieg hat ihn zum letzten direkten Stammträger gemacht, so dass seine Tochter den Hof besitzt. Er war ein sehr geistreicher Erzähler mit einem noch ganz frischen Gedächtnis, † 1944.

Nicht mehr aufhören zu reden und zu erzählen, besonders wenn er ein Schnapsl oder einen Tabak hält, tät der — wie er sagt — heute schon 89 jährige alte Franz Salchner, vulgo Silbergasser von Gschnitz. Er dürfte wohl erst 87 sein, weil sein Gedächtnis heute nicht mehr ganz frisch ist. Kein Wunder, wenn er sich nicht mehr genau erinnern kann, wann er „geboren“ ist. Aber er lebt noch ganz im alten Glauben seiner Vorfahren und schaudernd erzählte er einmal: „Da ist der Geist übern Hobach aus und ein g’fahren und die glühnigen Steigeisen haben g’fuirt!“ † 1943.

Fast patriarchalisch mutet die Gestalt des alten Cajetan Gratl von den höchsten Schmirner Höfen in Obern (1650 m) an. Er ist ein ungemein edler Mensch, von einer dichterischen Begabung, die man heute nur noch ahnend verstehen kann. Man muss es bedauern, dass er nie zur Ausbildung gelangt ist. Er stammt aus dem fast adeligen Bauerngeschlecht der Hochgeneiner Gratl. Seit seinem 60. Jahr plagt ihn eine unheilbare Gliedersucht, † 1940.

Der letzte, noch auf dem Hochgeneiner Hof (1668 m) geborene Nachkomme der dortigen Gratl, die seit 1589 den Hof bebauen, ist der heute 88jährige Hans Gratl in Vals. Er ist ein typischer Vertreter dieser Familie, † 1947.

Demgegenüber war der 87jährige Hager, Erbhofbauer in Vals ein trockener Gesell! An Ung’schichten glaubt er nicht viel. Er ist der Rationalist unter den Bauern.

Gatt Josef, vulgo Schullehrer, Vals 1856 geboren, immer noch „ganz guet beim Zuig“. Als die Brennerbahn das erste Mal gefahren ist, war er neun Jahre alt. Er war gerade beim Geißhüten, als der Zug in den Tunnel eingefahren ist. Da ist er heimgesprungen und hat zur Mutter gesagt:

„Muetter — heunt hab ich den Tuifel gehört!“

Auch die Geschwister Vinzenz und Anna Steckholzer von Padaun wissen über Padaun und Vals noch viel zu erzählen.

Die 82jährige und vor einem Jahr verstorbene Katharina Vogelsberger auf Egg bei Vinaders wusste viel zu erzählen! Sie war eine bekannte Nationalsängerin und ist weit herumgekommen. Seit dem Krieg lebte sie auf dem Bergbauernhof in harter Arbeit.

Der alte Töchterler-Bauer aus Obernberg, der besonders viele Sagen über Obernberg erzählt hat, ist im Mai 1948 im Alter von 88 Jahren gestorben.

Holzmann Andrä, Schagerbauer in Mühlen bei Navis, geboren aber in Navis, vermag viel von alten Zeiten zu berichten. „Nur hear’n tue i zu wiag!“ (87 Jahre alt.)

Aber beim alten, 87jährigen Stampfbauer in Hölltal bei Navis gelingt es nicht, etwas herauszubekommen. Er erzählt nur seinen vielen Enkelkindern. Trotz seines Alters hat er kaum ein weißes Haar auf dem Kopf, † um 1942.

Penz Rosina, genannt das Penzenweibele von Navis, hat besonders viele Sagen über das Navistal erzählt. Heute 92 Jahre alt.

Klaus Baldemayr, Rögeler-Bauer in Navis, aus sehr alter Wipptaler Familie stammend, ist ein besonderer Kenner seines Heimattales. Sein Urgroßvater war berühmter Freiheitskämpfer 1809.

Eine besondere Kennerin der alten Steinacher Geschichte und beste Erzählerin von Sagen und Bräuchen ist die alte Schneiderin von Steinach, aus der Modhäuser-Familie von Mauern stammend. Trotz ihrer 91 Jahre ist sie noch gesund und hat ein staunenswert gutes Gedächtnis.

Der alte Hiesner-Bauer namens Stackler, sowie der Pranger- und der alte Feiser-Bauer von Gschnitz sind besondere Sagenerzähler und Gewährsmänner für Gschnitz.

Eine Heimaterzählerin aus Pfons bei Matrei ist Gertraud Penz, geb. Muigg, vulgo Thurner, geb. 1857 in Pfons; die Fuchs Kathl und der Larcher-Bauer von Ellbögen sind die Erzähler für das Gebiet von Ellbögen.

Anmerkung: Noch vielen anderen Wipptaler Bauern und Wipptalerinnen schulde ich für viele Angaben und Erzählungen Dank: vor allem der 88jährigen Moar-Hartlin von Mauern (gest. 1938), deren Erzählungen ich leider nicht aufgeschrieben und daher teilweise vergessen habe; dann der alten Spörr-Bäuerin in Mauern bei Steinach, gest. 1938, dem Töchterler-Bauer und seiner Frau von Nößlach, gest. um 1937, und vielen anderen.

Wenn diese Arbeit nur einige Jahre früher geschrieben worden wäre, hätten noch wertvolle Ergebnisse gewonnen werden können!

LITERATURANGABEN.

Der Zweck vorliegender Veröffentlichung besteht und bestand nicht in einer textkritischen Behandlung oder vergleichenden Bearbeitung der Sagen aus dem Wipptal, sondern zunächst in ihrer Erfassung und Darstellung an sich. Das ist umso mehr berechtigt, als die Sammlung dieses teilweise absterbenden, Sagengutes sozusagen in letzter Stunde geschah. Mehrere der besten Erzähler des Wipptales sind seit 1939 im hohen Alter von 90 Jahren gestorben. Hauptziel der Arbeit war also die Rettung des alten Gutes vor der Vergessenheit und damit vor dem völligen Untergang. Hierzu wurde nur das für die Erklärungen unerlässliche Schrifttum herangezogen und in Ausnahmsfällen Zusammenhängendes aus Gebieten außerhalb des Wipptales mitberücksichtigt. Bei weiteren Vergleichen müssten manche eigenständigen Abschnitte, z. B. über den Wilden Alber, in Sonderschriften behandelt werden. Die Arbeit erstreckt sich jedoch nur auf das Wipptal und geht über dieses Teilgebiet alpenländischer Volkskultur nicht hinaus. Mit Absicht wurde es auch vermieden, früher abgedruckte Sagen nochmals zu veröffentlichen. Fast durchwegs handelt es sich hier um ursprüngliche Erzählungen des teils noch heute lebendigen, teils ersterbenden Sagengutes. Nur vereinzelt wurden gedruckte Sagendarstellungen einbezogen, vor allem, wenn es sich um ältere Fassungen handelte. Eine solche Sonderbehandlung des Wipptales dürfte auch deshalb am Platze sein, weil dieses in den meisten bisherigen Sagenveröffentlichungen gar zu kurz, gekommen ist. So sind die Erzählungen von den Wilden Fräuelein oder den Wichtelern, die Totenkopfsagen, Hexendarstellungen usw. noch nie gedruckt worden. In den „Volkssagen“ von Job. Ad. Heyl (Brixen 1897) finden sich alles in allem drei Stücke aus dem Wipptal, von denen nur eine ganz bodenständig wiedergegeben ist, nämlich die Sage vom Obernbergertal (S. 95). Auch I. V. Zingerle ist in seinen Sagen aus Tirol (Innsbruck 1891) dem besonderen Reichtum des Wipptales nicht gerecht geworden. Die neuen Buchausgaben nordtirolischer und tirolischer Sagen von Karl Paulin (Innsbruck 1933 und 1940) enthalten wohl einige aus dem Wipptal, jedoch in sehr verallgemeinerter Darstellung und ohne persönliche Verwurzelung mit dem Sagenboden selbst. Die angemessenste und fruchtbringendste Form der Wiedergabe von Volkssagen stellt freilich überhaupt ein Problem für sich dar.111)

111) A. Dörrer bietet eine Übersicht über das tirolische Sagenschrifttum in der Zeitschrift „Geistige Arbeit“, Jg. 7 (1940), Nr. 18, S. 1 f.

Benütztes Schrifttum:
Alpenburg, Joh. Nep. R. von: Mythen und Sagen Tirols, Zürich 1857.
Arens Franz: Das Tiroler Volk in seinen Weistümern, Gotha 1904.
Dörrer Anton: Die Volksschauspiele in Tirol (Tiroler Heimat NF. 2), 1929, S. 69—128.
Egger Alois: Flurnamensammlung (Handschrift); Wipptaler Höfewerk, hg. von Ludw. Steinberger und Mitarbeitern: Mitteilungen des Museum Ferdinandeum 16 (1936), S. 3 ff.
Fink Hans: Die Kirchenpatrozinien Tirols, Passau 1928.
Grimm Jakob: Deutsche Mythologie, Göttingen 1815.
Hörmann, Ludwig von: Tiroler Volksleben, Stuttgart 1909.
Hintner Valentin: Stubaier Ortsnamen, Wien 1902.
Kolb Franz: Handschriftliche Sammlungen und Arbeiten (Bahrrecht usw.).
Mailly Anton: Deutsche Rechtsaltertümer in Sage und Brauchtum (Kleine historische Monographien hg. von Nik. Hovorka), Wien 1930.
Meßner Hannes: Die deutschen Flurnamen des Gschnitztales, Diss. Innsbruck 1942.
Wopfner Hermann: Besiedlung unserer Hochgebirgstäler, München 1920 (S.-A. aus Alpenvereinszeitschrift 1920).
Anmerkung: Einige Sagen aus dem Navistal wurden einem handgeschriebenen Hefte der verstorbenen Lehrerin Prechtl aus Navis entnommen und mit diesem Namen erwähnt. Dr. Franz Kolb danke ich für den Hinweis darauf.

Quelle: Wipptaler Heimatsagen, gesammelt und herausgegeben von Hermann Holzmann, Wien 1948, S. 244 - 256.