Ein Märchen

Hoch im Schmirntal, auf den letzten ebenen Bergwiesen, von wo sich dann steile Schutthalden mit Wasser- und Lahngängen in die Höhe zum nahen Bergjoch ziehen, sind Kinder beim Gänsehüten. Während sich die ganze Gänseschar schreiend im Hintergrund tummelt und die jungen Gänslein mit unsicherem Gang und langgereckten Hälsen nach allen Seiten auseinanderstieben, sitzen die Kinder froh und still beisammen. Die Älteste erzählt wohl die Sage von den wilden Fräuelein, die vor uralten Zeiten bei den dortigen Höfen gelebt haben sollen. Erwartungsvoll schauen die Kinder auf die junge Erzählerin. Hell leuchten ihre Augen. Ganz selig und still versunken sitzen die zwei Kleinsten da. Lachend vor Wonne schaut die Dritte auf, als ob sie das Ende der Geschichte kaum mehr erwarten könnte. Mit ihren leuchtenden Augen scheint sie zu fragen: „Was dann - - - ?“ Aber die Vierte beugt sich wie fragend vor. Ihr Gesicht schaut ernster aus als das der andern. Kann dies Geschichtlein denn keine Freude in ihre Wangen zaubern . . .? Kann sie nicht zufrieden sein und still vor sich hinlächeln wie die anderen Kinder . . .? Nur eine Frage spiegelt sich in ihrem ernsten Gesichtchen, eine Frage, die ja immer wieder den Menschen bewegt: „Ist‘s wahr . . .?“

Ja — freilich ist’s wahr, du liebes Kind! Freilich ist's wahr — ebenso wie diese Tatsache, dass deine Vorfahren schon seit Hunderten von Jahren auf diesen hohen abgelegenen Berghöfen gehaust haben und heute noch hausen! Denn jede, auch noch so unscheinbare Sage stellt ja nichts anderes dar als ein:

Heiliges Vermächtnis Deiner Ahnen!

Quelle: Wipptaler Heimatsagen, gesammelt und herausgegeben von Hermann Holzmann, Wien 1948, S. 13 - 14.