Gründungssagen und aufgelassene Siedlungen

Immer wieder greifen die Tiroler Volkssagen tief in das religiöse Gebiet hinein und bereichern es mit wundersamen Erzählungen und sinnigen Bräuchen. Kein Wunder, dass die Heiligtümer selbst, vor allem Kirchen und Kapellen, mit sinnigen oder seltsamen Sagen ausgeschmückt worden sind, deren Inhalt oft bis in das Heidentum oder auf den Kampf gegen das Heidentum zurückgeht. Schon der Name der Kirche, dann Art und Anlage der Baulichkeit, nicht zuletzt aber der Kirchenpatron geben uns wertvolle Hinweise über Entstehungszeit oder über besondere Motive, die zum Bau geführt haben. Häufig findet sich nun die kulturgeschichtlich so interessante Beobachtung, dass christliche Kirchen an Stelle von heidnischen Heiligtümern erbaut und errichtet worden sind. Diese Tatsache spiegelt sich nicht selten noch in Sagen über Entstehung der Kirchen wieder.

Auch im Wipptal gibt es einige solcher Kirchen, die vom Volk als „Heidenbau“ oder „Heidengebäu“ oder sogar als heidnischer Tempel bezeichnet werden, was freilich ganz verschiedene Gründe haben kann. So wurde noch im vergangenen Jahrhundert die Kirche von Vinaders als „Heidenbau“ bezeichnet, womit ein gewisser Vorwurf verbunden war. 82) Auch vom nahe bei Vinaders gelegenen St. Jakob behauptet das Volk, dass es ein Römertempel gewesen sei, obwohl sich baulich kein Anhaltspunkt dafür finden lässt. Wohl aber bekräftigt Art, Anlage und Bau des Kirchleins von Mauern die alte Volkstradition, dass sich hier ein heidnischer Tempel befunden hat. Im Jahre 1834 nimmt die Kirchenchronik darauf Bezug.

82) Muigg, Chronik von Vinaders, um 1870.

So sind es im Wipptal drei Kirchlein, nämlich Mauern, Vinaders und vielleicht auch St. Jakob, die in Verbindung mit heidnischen Bauwerken gebracht werden. Bestimmter führt die Sage über den Kirchenbau von Trins in die heidnische Zeit zurück. Als die erste Kirche gebaut werden sollte, hatte sich eine furchtbare Streitigkeit entwickelt. Zwei Freibauern, der Barthler und der Schießer, waren entscheidend daran beteiligt. Der eine Freibauer wollte die Kirche außerhalb des Dorfes bauen und der andere an der Stelle, wo sie heute steht. Zur ewigen Erinnerung daran war ein Bildnis ober dem Portal der Kirche errichtet worden. Es stellt den heiligen Georg als Kirchenpatron dar, wie er auf einem weißen Ross den Drachen zermalmt, ihm zur Seite aber stehen zwei Freibauern mit Schild und Spieß. Auf einem Fels im Hintergrund ragt ein kleines Kirchlein. Das Bildnis stammt wohl aus der Zeit um 1500 oder es wurde sogar beim 1494 erfolgten Neubau des Kirchleins angebracht. Es stellt vielleicht die Versinnbildlichung alter Sagen dar, die auf die neue Kirche übertragen worden sind.

Verschiedene Anzeichen sprechen dafür, dass sich das Heidentum in abgelegenen Berggebieten länger und tiefer gehalten hat als an den verkehrsreichen Hauptstraßen. Die Christianisierung des Eisacktales z. B. „hat erst seit dem Ausgang des siebten Jahrhunderts“ begonnen und zog sich wohl noch länger hin. 83) Noch später und langsamer ist die Christianisierung solch einsamer Hochtäler erfolgt wie des Gschnitztales. Vielleicht ist deswegen der Drachenbändiger Sankt Georg als Kirchenpatron des Gotteshauses von Trins (Trunnis) erwählt worden, damit er das Gift des Heidentums mit übermenschlicher Kraft bekämpfe. Das Patrozinium des Heiligen Georg reicht häufig in alte Zeiten zurück. Gerade diese Tatsache kann als Abwehr gegen das Heidentum gedeutet werden. Bis sich daher in solch abgelegenen Hochtälern die Christianisierung durchgehend vollzogen hat, mögen Jahrhunderte vergangen sein.

83) Über diese Frage näheres bei Richard Heuberger, Rätien im Altertum und Frühmittelalter, 1, (Schlernschriften XX), Innsbruck 1932.

Alle anderen Kirchensagen führen höchstens in das Mittelalter zurück oder in noch spätere Zeit. Sehr häufig hängt die Entstehung oder Gründung eines neuen Kirchleins mit einer Heiligenlegende oder aber mit der Auffindung eines gnadenreichen Bildnisses zusammen. Die Legende von Unserm Herrn im Elend, wie das Gnadenbild der Pfarrkirche Matrei genannt wird, kommt zeitlich und inhaltlich an erster Stelle. Sie führt sogar in die Zeit der Kreuzzüge zurück: 84)

84) Aus einem alten Erbauungsbüchlein aus dem Jahre 1828.

„Ungefähr hundertundachtzig Jahre vor der Zerstörung des Schlosses Aufenstein, um das Jahr 1210 wohnte da ein frommer, tapferer Ritter, namens Heinrich von Aufenstein. Allgemein war er in der Gegend als ein guter, wohltätiger Herr bekannt, geschätzt und geliebt. Sein frommer Sinn veranlasste ihn zu dem Entschluss, in das gelobte Land zu reisen und Jerusalem zu besuchen. Vor allen anderen Sehenswürdigkeiten, die ihm dort gezeigt wurden, machte ihm ein uraltes, hölzernes Bildnis Jesu Christi in der Kirche zum Heiligen Grabe den tiefsten Eindruck, das dort von den frommen Pilgern unter dem Titel: Unser Herr im Elende verehrt wurde. Er fasste den Vorsatz, eine Abbildung dieser Darstellung zu Aufenstein in der Schlosskapelle aufzustellen. Es gelang ihm, einen Künstler zu finden, der ihm bis zu seiner Abreise ein an Größe und Gestalt völlig gleiches Bildnis verfertigte, das er dann unter mancherlei Fährnissen und Beschwerden in seine Heimat brachte und — der Legende nach im Jahre 1210 — aufstellen ließ.

Ritter Heinrich stellte anfangs das Bild in seiner Schlosskapelle zur Verehrung aus. Da aber der Zulauf der vielen Wallfahrter zu groß und der Weg in diese einsame Gegend zu unbequem war, so wurde dasselbe in die Pfarrkirche nach Matrei übertragen und neben dem Hochaltar zur Verehrung hingestellet.

Bald darauf hauste in dem nun zerstörten Schloß Raspenbühel ein Ritter von ganz anderen Sitten als die des Ritters von Aufenstein. Seinen Namen verschweigt die Geschichte. Bloß mit Jagd und unmäßigem Essen und Trinken beschäftigt, verachtete er Andacht und Tugend und besonders auch die Verehrung des Elendsbildnisses, dem aber seine frömmere Gemahlin sehr zugetan war. Sein Hass gegen die Verehrung dieses Bildnisses ging so weit, dass er den damaligen Pfarrmesner mit Drohungen und Versprechungen dahin brachte, das Bild des Nachts in die vorbeifließende Sill zu werfen, um so auf einmal den Zulauf des Volkes und alle Verehrung des Bildes zu zerstören. Allein das Bild stand des Morgens, als der Mesner in die Kirche kam, wieder an seinem vorigen Platze. Der Versuch wurde wiederholet und das letzte Mal sogar in Gegenwart des Ritters, der hierauf die Kirchenschlüssel über Nacht zu sich nahm. Doch auch diesmal stand am Morgen das Bild wieder an seinem gewöhnlichen Platze in der Kirche. Dieser Anblick erschreckte zwar den Ritter, besserte ihn aber nicht.

Es verstrichen noch einige Monate, da kam die Frau des Ritters in Kindesnothen. Längere Zeit fühlte sie schon die Geburtsschmerzen, immer wurde das Übel ärger, kein Hilfsmittel fruchtete — Mutter und Kind schwebten in Todesgefahr. Dem bedrängten Ritter gingen nun zwar die Augen auf. Er begibt sich in die Kirche zum Gnadenbildnis, bereuet die Unbild und bittet um Gnade und Verzeihung. Als der Ritter voll des innerlichen Trostes in sein Schloss zurückkam, hörte er, es habe sich mit seiner Ehefrau gebessert und sie habe einen gesunden Knaben zur Welt gebracht.“

Ähnlich wie beim Wunderbild von Matrei gehen auch die Legenden über Ursprung und Entstehung der Wallfahrtskirchlein des Wipptales auf wundersame Begebenheiten und Erscheinungen zurück. Gerade die Wallfahrtsorte sind vom Volk mit lieblichen und sinnigen Sagen und Legenden ausgeschmückt. Vor allem tritt die in Tiroler Sagen nicht seltene Vorstellung von wunderbaren Erscheinungen in den Vordergrund. Oder die Engel schweben vom Himmel und holen die Holzscheite, um sie an eine bestimmte Stelle zu tragen, wo der Bau durchgeführt werden soll. Ein Gnadenbildnis findet sich an einer bestimmten Stelle — wie bei St. Magdalena im Gschnitztal — oder es wächst aus „dem Holz“ heraus wie bei Maria Waldrast, einem der besuchtesten Wallfahrtsorte von Tirol. Es wird keinen Wallfahrtsort in Tirol geben, der mit so vielen Legenden und Erzählungen ausgeschmückt ist wie Maria Waldrast, das in der Volksverehrung im Wipptal und Stubai die erste Stelle einnimmt: 85)

85) Die folgende Darstellung der Sage nach Tinkhauser-Rapp, 2. Bd. Vgl. auch „Wipptaler Höfe", 1. Bd. Nr. 75 bis 75. Interessant ist der Fall aus den Copialbüchern aus dem Jahre 1584, als ein Bub namens Wolfgang Mayr, „einen diebstahl bey Vnserer lieben Frauen auf der Waldrast“ begangen hat und zwar mit „Entfremdung und Herausziehung des gelts aus dem Stock“, wobei der Bub betreten wurde. Der schlaue Lausbub hatte einen Stock „mit einer Salbe bestrichen“ und das Geld dann herausgestohlen! Der Erfindungsgeist war schon damals recht lebendig. (Copialbuch 1584—1589, Staatsarchiv Innsbruck.)

Vom Ursprunge dieser Wallfahrt erzählt uns die Legende:

„Im Jahre 1392 schickte die große Frau im Himmel einen der ihr dienstbaren Geister auf die Erde. Dieser ließ sich an der Stelle, die man nun Waldrast nennt, nieder und sprach im Namen der Gottesmutter zu einem hohlen Lärchenstock: ,Du stockh sollest der Frauen im himmel bild fruchten.“ Da wuchs nun ein Bild im Stock und wurde durch zwei fromme Hirtenknaben, Hänsele und Peterle von Müzens, entdeckt. Sie hatten ihre Herden dahingetrieben und ruhten im Schatten des kühlenden Waldes. Auf einmal vernahmen sie wie im Traume ein wunderbar liebliches Klingeln, wie Töne von silbernen Glöcklein. Vor ihnen strahlte im Flammenkreis eine holde Frauengestalt mit dem Kindlein auf dem Arm. Die Frau redete nicht, aber hold und freundlich war ihr Blick. Während sie sich aufrafften, um der Frau entgegenzueilen, erwachten sie aus dem Schlaf und das schöne Bild war verschwunden. Voll Staunen und Verwunderung liefen sie nach Haus zurück und brachten die Kunde von dem, was sie gesehen. Einige Bauern begaben sich nun auf den von den Knaben bezeichneten Platz und fanden das Marienbild, welches im Stock wuchs. Dieses wurde mit einer Säge herausgeschnitten und einstweilen nach Matrei gebracht. Nach zwanzig Jahren ward für dasselbe ein eigenes Kirchlein in der Waldrast gebaut. Auch dies Ereignis umhüllt die Legende mit einem wundervollen Kleide. Ein armer Holzhacker, Christian Lusch von Matrei, wurde in dreien Pfinztagsnächten nacheinander, während er im Schlafe lag, von einer Stimme zur Erbauung eines Kirchleins für das aufgefundene Bild ermuntert. Endlich gab er der dringenden Ermahnung nach und erhielt auf die Frage, wo er das Kirchlein bauen solle, von der nämlichen Stimme zur Antwort: ,Im wald ist ein gruen fleck im Mosz, da leg dich nieder und rast, so wirt dier wol chund gethan die rechte stat.‘ Das tat er und entschlief und im Schlaf hörte er zwei Glöcklein klingen. Da wacht’ er auf und sah vor sich eine Frau im weißen Kleide und das Kindlein auf dem Arm. Hier, dacht er, ist die rechte Statt, setzte sogleich die Markzeichen zum Bau, „vnd dye glöcklen chlungen, pis er ausgemerkt het.‘ Lusch begab sich nach Brixen und erhielt am 19. April 1407 vom Bischof Ulrich die Erlaubnis, zum Lobe des allmächtigen Gottes und der glorreichen Jungfrau Maria, an dem Orte Serles (auf dem Serlesberg) eine Capelle zu erbauen und zu dotieren. Indessen scheint der Bau nur langsam und unter mancherlei Hindernissen fortgeschritten zu sein. Denn im Jahre 1414 erteilte der Generalvikar von Brixen dem armen Christian einen Sammelbrief, und erst 1429 ward die Capelle vollendet, welche der Salzburger Weihbischof Kaspar am 28. Februar 1465 konsekrierte. Sie erhielt von Rom Ablassbriefe und gelangte in kurzer Zeit zu hoher Blüte. Die steigende Zahl der Wallfahrer machte bald einen eigenen Priester nötig. Diesem Bedürfnisse entsprach Herzog Siegmund, welcher für das neue Gnadenbild eine große Verehrung trug. Er stiftete mit Urkunde ,geben zu Ynsprugg am Freydag vor sant Jacobtag des heilligen Zwelfpoten 1473‘ eine ewige Messe in der U. L. Frauen-Kirche auf der Waldrast in Betrachtung, ,datz Sy gar genedicklichen daselbs rastet, auch viel zeichen daoben beschehen sollen.‘ Das Patronat über dieses Benefizium übten die Landesfürsten aus. Aber die Kirche blieb wie ehedem eine Filiale von Matrei. Die erste Investitur-Urkunde, welche ich gefunden habe, lautet für Georg Diepoltskircher unterm 10. Februar 1487.“

Es wäre leicht möglich, dass bei der Waldrast schon in vorchristlicher Zeit eine Kultstätte bestanden hat. Vor allem auffallend ist der ganz nahe unter der Wallfahrt gelegene Felsblock, der seltsame Eindrucksformen aufweist und vom Volk mit lieblichen Legenden ausgeschmückt ist. Die Legende erzählt, dass die Mutter Gottes auf der Flucht nach Ägypten mit dem Eselein darüber gegangen ist, so dass man noch heute die Eindrücke des Tieres sieht. Nach anderer Darstellung hat sich der Stein in Ägypten befunden und kam wundersamer Weise in diese Berggegend. Die moderne Darstellung versuchte jedoch die Annahme, dass es sich um einen sogenannten vorgeschichtlichen Schalenstein handle. Der Schluss auf vorgeschichtliche Kultstätte läge dann an der Hand. Aber diese Annahme ist nicht zu halten, vielmehr können die Spuren im Stein wohl auf einfachste, natürliche Weise erklärt werden, wenn auch darüber das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. 86)

86) Darüber hat Herm. Delago in den Tiroler Heimatblättern, 1935, S. 342, geschrieben. Die Einheimischen behaupten jedoch, der Stein gehe auf eine Sprengung zurück, die in alter Zeit mit eingehauenen und sodann wassergetränkten Holzkeilen durchgeführt wurde.

Die Sage über das „Muetter-Wasserl“, wonach die Mutter-Gottes gerastet habe, um Wasser zu trinken, hängt ebenfalls mit dem Wallfahrtsort zusammen.

Während auf der Waldrast die Mutter Gottes einem armen Hirtenknaben im Traum erschien, deren Bildnis dann auf dem Baumstamm eingewachsen war, berichtet eine ähnliche Sage über die Entstehung des so idyllisch gelegenen Wallfahrtskirchlein zur „Kalten Hörbige“ in Schmirn:

An einem stürmischen Hörbisttag streifte ein Jäger auf einsamer Pirsch durch den Hochwald. Da sah er auf einmal unter einer Wetterfeichte eine Frau mit einem Kindlein unter dem Arm, die gegen Wind und Wetter Zuflucht gesucht hatte. Mitleidsvoll näherte sich der Jäger der seltsamen Erscheinung und sagte:

„Frauen — da habt ihr eine Kalte Hörbige (= Herberge)!“

Aber bei diesen Worten verschwand die seltsame Erscheinung wieder ganz plötzlich. Der Name „Kalte Herberge“ ist jedoch geblieben. „In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts (1730) wurde dann eine ganz kleine Kapelle aus Holz gezimmert und darin das noch jetzt erhaltene Mariahilf-Bild aufbewahrt. Im Jahre 1773 baute man eine kleine Kapelle aus Mauerwerk, welche 1818 vergrößert wurde und nun zu dem im Jahre 1838 ganz neu aufgeführten Kirchlein die Sakristei bildet. — — — Seit dieser Zeit mehrt sich von Jahr zu Jahr die Zahl der Wallfahrer und in den Sommermonaten wird ziemlich oft an dieser einsamen und traulichen Stelle das heilige Messopfer verrichtet.“ 87)

87) Vgl. Tinkhauser-Rapp, II. Band.

Die alte Wetterfichte, unter deren Zweigen das Bild erschienen ist, rauscht immer noch über dem träumerischen Heiligtum. Als einmal einige Bauernburschen darangingen, die „wurmstichige, faule Feichte“ mit Axt und Säge niederzuschlagen, haben sie sich verletzt, so dass sie ihr Werk nicht ausführen konnten.

Nicht nur in Wallfahrtsorten, auch in Bauernhäusern und Kapellen werden nicht selten alte Bilder und Statuen aufbewahrt, von denen wundersame Begebenheiten erzählt werden.

Eine gotische Statue, die in vieler Hinsicht sowohl in Darstellung als auch in Fassung, an die Mutter-Gottes auf Maria Waldrast erinnert, wird beim Walziler in Trins aufbewahrt. Beim Brand 1858 befand sich diese Statue im Dachboden und kein Hausbewohner hat daran gedacht, sie in der drohenden Gefahr zu retten. Am nächsten Morgen aber fand sich die Statue unversehrt und nicht einmal angesengt im Freien beim übrigen geretteten Hausrat. (Walziler.)

Große Verehrung genießen im Wipptal die Maria-Hilf-Bilder nach Cranach.

Keine Wallfahrt, kein Kirchlein des Wipptales kommt an Reiz und Schönheit, an wundersamen Sagen und Legenden dem einsamen, träumenden Bergkirchlein von St. Magdalena im Gschnitztal gleich.

Von wundervollen Ereignissen und Sagen ist dieses poesievolle Bergkirchlein wie mit einem zarten Schleier umwoben. Mit dem spitzen, gotischen Türmlein, von dem vorwitzig ein Hahn herunterschaut, träumt und sinnt es inmitten der wuchtigen Bergwelt, die es fast zu erdrücken scheint. Aber zutraulich und heimelig schmiegt sich Kirchlein und Mesnerbehausung an den Felsen. Einige zerrissene und zerfetzte Wetterfeichten rauschen und wiegen im Wind. Kirchturmtief bricht ganz plötzlich der Abgrund in dunkler Schlucht zur Tiefe. Fern im Tal grüßt das Kirchlein von Gschnitz und winken die trauten Höfe mit dem dunklen, niedern Schindeldach zur einsamen Höhe von St. Magdalen. Silberhell läutet das Glöcklein. Der Bach rauscht aus der Tiefe wie aus weiter Ferne. Mächtig recken sich die Bergwände des Kirchdaches zur Höhe, während gegen Westen der Zeis spitz einen dunklen, düstern Schatten wirft. Der Zeisspitz zieht den Blick in seinen Bann.

St. Magdalena! Einstens eine Einsiedelei, wo manch gewalttätiger Ritter harte Buße getan hat — heute verlassen und vereinsamt, ein Ort zum Sinnen und zum Träumen. Wieder erwachen die wundersamen Sagen aus längst vergangener Zeit:

Uralte Lärchen umragen
Die träumende Einsamkeit.
Sie raunen stille und sagen
Von wunderbarer Zeit.
Der Bergwind braust um die Mauern
Mit ungestümer Macht.
Geheimnisvoll stilles Trauern
Hält hier die einsame Wacht.

Und mächtig trutzen die Berge,
Sie blieben sich immer gleich.
Vom Elbengast (Ilmspitze) schauen die Zwerge
Aus saligem Zauberreich.

Des Hogers trotzig Gestalt
Ragt hoch über alle Welt,
Als wachte er voller Gewalt
Über Fluren und Berge und Feld.

Tief unten rauschet der Bach
Und schlängelt sich silbern dahin.
Da duckt sich der Bauern Gedach
In dem satten Wiesengrün.
Am Abend schauen die Bauern
Hinauf zu den einsamen Höhn,
Zu den weißlich schimmernden Mauern
Vom uralten: St. Magdalen!

So horch — wie es brausend hallt
In Lüften und über der Erd!
Von des Thorspitz' hoher Gestalt
Ein finsteres Donnern fährt!
Geheimes, verwunschenes Leben
Scheint heute aufs neue erwacht.
Am Zeisspitz beginnt es zu beben
Und dumpf eine Lahne kracht.

Ich fühle mich ängstlich und klein,
Erdrückt von der Berge Macht —
Als wäre ich nicht mehr allein — — —
Wer hält mit mir stille Wacht . . .?
Viel Pilger wallten und gingen
Im Kirchlein hinein und hinaus,
Es klingt noch ihr Beten und Singen
Im einsamen Gotteshaus . . .

Sie halten noch immer die Wacht
Um das träumende Heiligtum.
Bei Sonne und dunkler Nacht —
Sie stehen hier drohend und stumm.
Wir erleben die Wunder und Sagen,
Ein Märchen scheint neu zu erstehn —
Von wundervoll großen Tagen —
Am uralten St. Magdalen!

Die Gründungssage von St. Magdalena ist überall im Gschnitztal bekannt und immer noch sehr volkstümlich. Die älteste Fassung der Sage findet sich in der Gschnitzer Kirchenchronik vom Jahre 1766, die hier erstmalig veröffentlicht wird:

 „Es hat ein adelich und reicher Herr wegen begangener großer Lastertaten zur Buße die große Schuldigkeit bekommen, an einen beliebigen Ort zu Ehren der Hl. Magdalena eine Kirche zu bauen. Als er sich nicht entschließen konnte, wo er die Kirche bauen sollte, fiel ihm ein, er solle ein Maultier oder ein Eselein mit dem nötigen Gelde beladen, frei dahinziehen lassen und an demselbigen Orte, da das Tier würde stille stehen, seiner Schuldigkeit Genüge leisten.

Er folgte dieser seiner Einsprechung und das Maultier kam endlich über das prennerische Gebirge nach Steinach, von wannen es sich von der Straße ab und gegen Trins gewandt; geht aber auch allda vorüber, und als es neben dem Berglein angekommen, grüßt es gleichsam mit erhobenem Haupt und Geschrey den Ort. Da es aber an den Fuß des Berges angelangt, soll es entkräftet tot zur Erde gefallen sein.

Man fing mithin auf selbigem Boden an, alles zum Bau zuzurichten. Es musste aber der Herr mit Bestürzung sehen, dass die Sache keinen Fortgang gewinnen konnte, maßen sich die Arbeiter immer schädigten. Als er nun mit anderen Gott inständig bat, dass er ihm seinen Willen noch fernerhin entdecken wolle, nahm man wundersam wahr, wie die Vögel die blutigen Holzscheiten mit ihren Schnäbeln fassten und auf einen grünen Boden hoch in die Berge hinauf trugen.

Man ging dann, so schnell man konnte, hinauf, den Augenschein einzunehmen, und siehe! Da fanden sie ein schön geschnitzeltes Bildnus der betenden Hl. Magdalena, und erkannten mithin, dass an diesem Orte die Hl. Büßerin ihren Wohnplatz erwählt hatte. Es wurde daher ein Weg zubereitet, einige Baumaterialien herbeigebracht und dann ging der Bau ganz wohl vonstatten.

Nachdem die verwunderliche Begebenheit ruchbar geworden war, kamen viele andächtige Wallfahrer dahin, welche auch zu öfteren große Wundergnaden erhalten haben. Sie erwiesen sich auch dankbar durch verschiedene Opfer und Stiftungen, wie denn auch die allergnädigsten Tiroler Landesfürsten nicht nur allein dem Kirchlein die herum liegenden Waldungen und Bergmahder zugeeignet haben, sondern auch demselben zehn Pfund Ferner auf ewige Weltzeiten zu reichen verordnet haben.

Und als solches Schenkungsinstrument glaublich in der im dazu gebauten Messnerhaus ausgebrochenen Feuersbrunst verloren gegangen, hat der großmächtige Fürst Maximilian, damals römischer König, solches erneuert und das Geld von dem Salzamt zu Hall jährlich zu bezahlen anbefohlen, wie auch zwei Pfund von dem Zoll am Lueg.

Ist auch das Kirchlein immer zu größerem Vermögen gekommen, welches sich nunmehr beiläufig auf siebentausend Gulden erstrecket.“ 88)

88) Kirchenarchiv Gschnitz, Pfarrchronik von 1766. Vgl. Wipptaler Höfewerk, 2. Band, Nr. 478. (1590 hinterließ Mathäus Progmeister, Mesner auf St. Magdalena Bergl, die Söhne Wolfgang und Georg.)

Solche Gründungssagen von „weisenden Tieren“ finden sich vielfach bei Kirchen und Klöstern in der deutschen Sagenwelt. Teilweise können sie sogar geschichtlich nachgewiesen werden, um vor allem an die Gründung des Klosters Kaß-Heim vom Jahre 1133 und St. Georgenberg bei Schwaz zu denken. 89) Durchwegs gehen diese Sagen auf das frühe Mittelalter zurück.

89) Vgl. Mailly, Rechtsaltertümer, S. 34.

Aus der schriftlichen Wiedergabe der Magdalena-Sage von 1766 ergeben sich wertvolle Hinweise für die Geschichte des Kirchleins. Vor allem wird auf eine sehr alte Stiftung verwiesen, die zur Zeit Kaiser Maximilians erneuert worden ist. Gemäß dieser Stiftung gehörten die herumliegenden Waldungen und Bergmahder zum Eigenbesitz von St. Magdalena, sowie auch eine Gülte von 10 Pfund Pernern auf ewige Weltzeiten vom Landesfürsten gestiftet worden ist. In derselben schriftlichen Quelle wird auch von einer „im Mesnerhaus ausgebrochenen Brunst“ gesprochen, ein Hinweis für das bauliche Alter des heutigen Kirchleins, das daher aus der Zeit vor Kaiser Maximilian stammt. Die derzeit in Restaurierung befindlichen und bisher ganz verdeckten Fresken von St. Magdalena gehen auf das 15. Jahrhundert zurück.

In besitzrechtlicher Hinsicht wird erwähnt, dass das Kirchlein „unstrittig zum Tal Gschnitz, nicht aber nach Trins“ gehört. Bei der Gründung der Kuratie von Gschnitz wurde ein Betrag von hundert Gulden, der ohnehin schon aus der Dotation von. St. Magdalena für die Kirche von Trins genutzt worden war, als Grundlage der neuen Kuratie Gschnitz genommen. Gemeinderechtlich gehört heute der ganze Grund von St. Magdalena der Gemeinde Trins. Die Kirchenverwaltung wurde jedoch schon im 15. Jahrhundert von eigenen Kirchpröpsten in Gschnitz, nicht aber in Trins, durchgeführt. Mehrere Urkunden aus dem 15. Jahrhundert befinden sich im Kirchenarchiv in Trins. Im 16. Jahrhundert war die Familie Progmeister auf dem Magdalena-Bergl ansässig, im 17. Jahrhundert hauste dort nach mehrfachen Erwähnungen die Familie Schlögl, gleichzeitig auch auf dem heutigen Krustnerhof. Im Jahre 1654 ist dort eine Tochter Ursula des Kaspar Schlögl und der Katharina Purrin getauft worden.

Der Tiroler Historiker Otto Stolz hat ergänzend zu der Chronik von 1766 die älteste Urkunde über St. Magdalena vom Jahre 1307 gefunden. In diesem Jahre hatte „Anna, von Gots gnaden Künigin zu Behaim — und gräfin zu Tyrol“, Gemahlin des Landesfürsten König Heinrich von Böhmen, „dem Sant Magdalena Gotzhaws auf dem Perg bey Trunns“ jährlich eine Gülte von 10 Pfund Perner, das sind 120 Kreuzer alter Meraner Währung, aus den Einkünften der Saline Hall verliehen. Diese Gülten sind jährlich „zwischen phingsten und des heyligen Saut Johannstag zu Sunwenden“ dem dortigen Geistlichen zu geben, „der dem almächtigen Got in demselben Gotzhaws dint". Das Geld darf nur dem Kirchlein zukommen, selbst wenn es dem Pfarrer von Matrei nicht genehm wäre, ja, der „pharrer von Matray darf mit denselben zehen phunden nichts zu tuen noch zu schaffen“ haben! 90)

90) Urkunde veröffentlicht in: Tiroler Heimatblätter, 1930, S. 201 ff.

Aus dieser am 2. Oktober 1307 ausgestellten Urkunde geht hervor, wie Otto Stolz mit Recht annimmt, dass „schon damals ein ständiger Gottesdienst auf dem einsamen Bergkirchlein bereits in Übung oder wenigstens in Aussicht genommen wurde.“ Allem Anschein nach lebte auch ein ständiger Priester (Einsiedler) auf dem Kirchlein, obwohl damals weder in Steinach noch in Trins ein eigener Geistlicher bestellt war. O. Stolz verweist weiter auf den Gegensatz zwischen der Pfarrgemeinde Matrei und dem Kirchlein St. Magdalena. „Nach der Meinung des Stifters hat offenbar die Pfarrgemeinde ein größeres, stärkeres Interesse an der Erhaltung und Ausstattung des Bergkirchleins besessen, als das geistliche Oberhaupt — oder mit anderen Worten, gerade das Volk hat an diesem, den Siedlungen so weit entrücktem Heiligtum gehangen!“ Des weiteren erinnert Stolz an die Sagen über die Entstehung des Kirchleins, wobei er auf die Möglichkeit hinweist, dass an dieser Stelle schon in vorchristlicher Zeit, sei es von den rätischen oder den germanischen Ursiedlern des Wipptales, eine Kultstätte errichtet worden war, wie solche in der heidnischen Zeit gerade an entlegenen Stätten beliebt waren. Die Anhänglichkeit an den einmal geweihten Ort hat sich dann beim Volk auch in christlicher Zeit fortgepflanzt und unmittelbar zur Entstehung einer Wallfahrt Anlass gegeben. Das, was die Sage über die Erbauung der Kirche meldet, muss ja nicht gerade erfunden sein, sondern kann als Nebenumstand zur Vergrößerung des Kirchleins tatsächlich mitgespielt haben! Übrigens wurden gerade in den älteren Zeiten mit größerer Vorliebe Kirchen auf Bergen errichtet, in Analogie zu den heidnischen Kultstätten, die gerade bei den Germanen mit Vorliebe auf Bergeshöhen lagen!“ 91)

91) Vgl. Fink, Patrozinien Tirols, S. 111.

Auch diese in vielen Fällen gemachte Erfahrung, worauf Fink hinweist, bewahrheitet sich an unserem Beispiel. Nach Grimm entsprach eine Kultstätte in freier Natur „ganz allgemein dem Denken unserer Vorfahren“; denn es hat in Tirol tatsächlich Kirchen gegeben, die nachgewiesenermaßen eine Erinnerung an das „Heidentum der in Tirol eingedrungenen Bayern“ darstellen. Vor allem sei das Kirchlein auf der Höhe von Meransen erwähnt, das den geharnischten Jungfrauen „Aubet, Wilbet und Werbet“ geweiht war, sowie die Kapelle zu Obersaurs im Oberinntal, denselben Heiligen geweiht, „die ursprünglich Gestalten der germanischen Göttersage gewesen sein sollen“. 92) Dass der Volkssage nach auch im Wipptal einige Kirchen auf heidnischen Ursprung hinweisen, so in Mauern und Vinaders, wurde schon erwähnt.

92) Vgl. Zingerle, Sagen aus Tirol, S. 29, Karl Hofer, in: Der Schlern 10 (1929), S. 408 ff., und Jos. M. B. Clauss, Die Heiligen des Elsaß (Forschungen zur Volkskunde, 18/19), Düsseldorf 1935, S. 56 und 125. über das Verhältnis der hl. Werbet zur hl. Kümmernis in Axams vgl. A. Dörrer, Das Spiel von Axams, Die Furche 4 (1948), Nr. 18. Folgende Inschriften konnten festgestellt werden: Über der Stubentür die Jahrzahl 1676. Auf dem Glockenstuhl trägt der mittlere Balken folgende Schrift:
„VEIT I SCHEIB CMB
ANKN 1731“
Am Gegenbalken:
„F. P. 1810“
Die Glocke wurde Anno 1805 gegossen mit der Inschrift: „Josef Müller Fusor Oenipontani“.

So würde es sich also um eine uralte Kultstätte handeln, vielleicht um ein Heiligtum, das noch auf heidnische Zeiten zurückgeht . . .? Es fällt schwer, diese Frage zu bejahen. Es fällt aber auch schwer, sie zu verneinen. Eine heidnische Kultstätte in dieser gewaltigen Bergeinsamkeit, angesichts der Thaursäule und der Elbogastberge, angesichts des geisterhaften Nening-Tales, im Banne des Thorberges und des Zeisspitzes, hätte keinen würdigeren und gewaltigeren Platz finden können. Als einziger Anhaltspunkt aus geschichtlicher Zeit steht uns die älteste Urkunde von 1307 zur Verfügung, die auch O. Stolz zur Annahme einer alten Kultstätte veranlasst. Vor allem spricht das Verhalten des Pfarrers von Matrei dafür, dass im Volk eine tief und seit altersher verankerte Verehrung für das Kirchlein „am Pergh“ schlummerte, ja, dass vielleicht die Tradition noch von einer heidnischen Überlieferung wusste. Wieso wäre es sonst zu erklären, dass sich der Pfarrer von Matrei so abwendig zeigte? Um die Stiftung allein hat es sich bestimmt nicht gehandelt, vielmehr hat es den Anschein, als ob ihm viel lieber gewesen wäre, wenn dies Kirchlein der Vergessenheit anheimgefallen wäre. Zwar spricht die Kirchenpatronin St. Magdalena tatsächlich im Sinne der überlieferten Sage als Stätte der Einsiedelei und der Buße. Nach Erwähnung der Kirchenchronik von 1766 soll die umliegende Bergwelt an jene Berglandschaft erinnern, wo einst die heilige Magdalena der Sage nach in Südfrankreich bei Marseille Buße getan hat. Anderseits aber entnimmt man aus der Urkunde von 1307, dass sich der Name damals nur auf das Gotteshaus bezog, nicht auf den Berg selbst. Die Örtlichkeit selbst wurde einfach „der Pergh“ genannt und erst später hat sich die Form entwickelt: „Magdalen-Bergl“. Noch im Kataster von 1778 wird „Magdalen-Kirchl am Bergl' genannt. Von diesem Bergl leitet sich noch heute der Hofname Bergler ab. Es scheint daher, als ob das Wort „Berg“ schon früher einen gewissen Begriff gebildet hat und erst später ist die Einsiedelei zur Hlg. Magdalena dazugekommen.

Ein weiterer Anhaltspunkt spricht aus der Erwähnung der Urkunde von 1307, wonach die Gülten jährlich zwischen „Pfingsten und dem heyligen Sand Johannstag zu Sunnwenden“ gegeben werden müssen. Mit Recht fragt man sich: warum gerade am St. Johannestage . . .? Ist nicht die Hlg. Magdalena Kirchenpatronin? Warum schon am Johanriestage . . .? In der allerdings lateinischen Ablassurkunde von 1339 (Vinaders) wird ebenfalls der Johannestag erwähnt, aber unter „Johannis Baptiste“! Warum wies man in diesem Falle auf „die Sunnwenden“ hin? Bedeutet es nur die Zeit der Sonnenwende an sich oder geht der Hinweis viel tiefer? In unserer alten Sprache wird die festlichste Jahreszeit, wo die Sonne ihren Gipfel erlangt hat, und wieder herabsinken muss „Sunnwenden“ genannt, weil der hohe Stand, der Sonne mehrere Tage anhält. Damit trifft auch der Johannestag zusammen. Zur Bekämpfung der ursprünglich heidnischen Vorstellung ist daher an Stelle der Bezeichnung „Sonnwendfeuer ‘ der Name „Johannesfeuer“ aufgekommen, wie man im Wipptal heute noch sagt. Die Vorstellung von der Sonnwende war im Wipptal ungemein lebendig. In den Gerichtsbüchern des 16. Jahrhunderts findet sich fast regelmäßig der Zusatz „Zum Johannnestag“, wie zum Beispiel 1758: „Actum am Sand Johannes Abendt zu Sunewendt !“ 93)

93) Allerdings scheint der Ausdruck „Sunnwend“ auch im Wipptal öfters gebräuchlich gewesen zu sein, so daß man in dieser Hinsicht mit gewagten Schlüssen vorsichtig sein muß; Verfachbuch Steinach 1551. Fol. 83, heißt es: „Erdi tag vor Johann Gotstauffer“, aber 1552, Fol. 160, findet sich ausdrücklich: „Actum am Sanndt Johanns Abendt zu Sunebend!“

Aber je mehr wir denken und sinnen, um so dunkler und undurchdringlicher wird die älteste Geschichte dieser romantischen Wallfahrtsstätte. Das Volk jedoch hängt immer noch mit großer Liebe an diesem Bergkirchlein. St. Magdalena genoss und genießt besonders bei den Trinsern einen großen Ruf als Wetterwallfahrt. Jährlich am Micheli-Tag gingen die Trinser nach St Magdalena „Sunne beten“ oder „um Sunne gehen“. Besonders in nassen Sommern wurde diese Wallfahrt nicht selten gemacht. Die alten Trinser erzählen, dass dann jedes Mal „die Sunne gekommen ist, sobald die Prozession beim Bergl hinaufgegangen ist“. Mehrmals haben auch die Steinacher eine solche Wallfahrt mitgemacht. Die jungen Burschen wollten dann die Glöcklein einläuten, aber die Trinser Burschen haben es ihnen verwehrt. In alter Zeit, bis zum Weltkrieg herauf, sind auch die Bauern von St. Peter bei Ellbögen jährlich am Magdalena-Tag zum Kirchlein gewallfahrtet Ihr Gelöbnis mutet seltsam an: Während andere Täler und Ortschaften Bittgänge gegen Wassergefahr veranstalteten, fürchteten die Bauern von Ellbögen am meisten den „truckenen Wind“, der zeitweise an den windoffenen Siedlungen schweren Schaden verursacht hat. Manchmal hat er Dächer abgetragen. Die Wallfahrt nach Magdalena richtete sich daher gegen den „truckenen Wind“. Einige Jahre hindurch haben es die Bauern mit der näheren Wallfahrt Maria Waldrast versucht, „aber es hat nit guet tan“. Das alte Gelöbnis wurde nach der Unterbrechung seit 1938 im Jahre 1946 wieder aufgenommen.

Beim Heimgehen achtete man genau darauf, „das Gatterle unter dem Kirchlein zu schließen; wurde es unterlassen, dann gab es ein Mißjahr. Wenn man das Gatterle gut zumachte, „wurde der Wind eingesperrt.“

Die Sage von St. Magdalena findet ein sinniges Gegenstück in der ältesten Kirchensage vom Navis. Die dortige Kirche ist dem Heiligen Christophorus geweiht. St. Christophorus war früher im Wipptal wie überall in Tirol sehr stark vertreten, um vor allem an das Straßenkirchlein Lueg zu denken, ebenso auch an die Kirche von Steinach, deren zweiter Patron im 14. Jahrhundert Christophorus war, sowie auch in Trins erst jetzt ein überlebensgroßes Christophorus-Fresko aus dem Ende des 15. Jahrhunderts aufgedeckt worden ist. Christophorus als Kirchenpatron in Navis deutet bestimmt auf die früher so wichtigen Passübergänge in das Inntal hin (Wattens und Lizum).

Der Sage nach wollte man zuerst das Kirchlein in Navis am Oberweg beim sogenannten Kastnerfeld bauen. Aber — wie beim Magdalenakirchl in Gschnitz — wollte auch diesmal die Arbeit nicht vom Fleck gehen und war wie von einem Unstern verfolgt. Die Zimmerleut hackten sich mit der Axt, dass die Holzscheite blutig gefärbt wurden. Dann fand man am anderen Morgen die blutgefärbten Holzscheiten in der Schattseite abseits gelegen von allen Höfen; hier wurde dann der Kirchenbau durchgeführt. (Rögeler.)

Die meisten anderen Kirchen des Wipptales sind jedoch irgendeinem Volksheiligen geweiht. Ihr Ursprung ist nicht selten mit einer Sage ausgeschmückt.

Besonders seltsam und ein schönes Beispiel der Sage von „Weisenden Leichnamen“ bietet die Kirche von Schmirn. Dort im Schmirntal war der Hl. Felix als Knecht beim Staudenhof angestellt (vgl. S. 88/89). Als die Schmirner die neue Kirche bauen wollten, hörten sie die Kunde, dass der Leib des Hl. Felix „unbedingt in eine neuerbaute Kirche“ wolle. Daher ging eine Abordnung der Schmirner zur Stätte, wo der Leib des Hl. Felix lag, um ihn zu holen. Auf dem Wege nach Schmirn sind sie in allen Kirchen zum Beten eingekehrt, nur in Steinach nicht, weil in Steinach ebenfalls eine neue Kirche erbaut wurde. Die schlauen Schmirner dachten sich, dass der Hl. Felix sonst in der neuen Kirche von Steinach bleiben möchte und sich nicht mehr weitertragen ließe. Aber sie kamen dort gut vorbei und trugen den heiligen Leib bis nach Schmirn, wo sie die Probe machten, ob er bleiben wolle oder nicht. Als sie den heiligen Leib niederstellten, konnten sie ihn nicht mehr aufheben, so schwer war er geworden. Die Leute glauben, dass es derselbe heilige Felix war, der als Knecht einmal in ihrem Tal gelebt hat. (Draxler.)

Am Brenner war der Heilige Valentin Kirchenpatron. Die Sage über den Heiligen Valentin wurde schon früher erzählt (vgl. S. 29). Als Kirchenpatron von Obernberg genoss der Heilige Nikolaus nur ein auf das Tal beschränktes Ansehen, auch der Name Klaus ist im Wipptal fast nicht gebraucht. Der Kirchenpatron des Hlg. Jodok im Valsertal lässt Zusammenhänge mit den Walsern vermuten, obwohl kein Anhaltspunkt als eben der Name allein besteht. St. Jodok gilt als Heiliger des alemannischen Walser-Stammes. Neben dem Kirchenpatron Erasmus zu Steinach werden schon im 14. Jahrhundert St. Christophorus und St. Quirin erwähnt, die daher auf hohes Alter der dortigen Kirche schließen lassen. Das Kirchlein der Elftausend Maiden in Mauern wurde schon mehrfach behandelt. Einen richtigen Bauernstolz jedoch ersieht man aus der Gründungssage des Kirchleins von Tienzens, das von den zwei großen Bauernhöfen der Familie Peer im 15. Jahrhundert erbaut worden ist, und zwar nur, „dass sie halt auch eine Kirche haben“!

Nach der in der Chronik von Muigg, Vinaders, überlieferten Sage geht der Bau des Kirchleins von St. Leonhard-Vinaders auf ein Gelöbnis zurück, das fast an die Martinswand-Sage erinnert.

Ein fremder Kaiser stieg im wilden Hochgebirge des Tribulaun dem Gemswild nach. Dabei verirrte er sich in solcher Weise, dass er weder vorwärts noch rückwärts konnte. In seiner Notlage machte er ein Gelöbnis, dem Hl. Leonhard zu Ehren ein Kirchlein und ein Hospiz zu bauen. Nach wundersamer Rettung aus seiner Bergnot kam er seinem Gelöbnis nach und erbaute das Kirchlein von Vinaders mit einem Hospiz für durchziehende Pilgersleute.

Nur ganz kurz können in diesem Zusammenhang die vielen Kapellen und Bildstöckl erwähnt werden, die sich überall im Wipptal vorfinden. Sehr häufig sind sie an solchen Stellen gebaut, wo Wildwasser oder Lawinen das Tal bedrohen. Ein schönes Beispiel bietet die Huebenkapelle bei Steinach, wo einmal bei Hochwasser ein lebensgroßes Kreuz angeschwemmt wurde und aufrechtstehend an derselben Stelle stehen blieb.

Der Name erinnert an den alten Huebenhof bei Steinach (heute Hoferbauer). Bei einer Renovierung im Jahre 1937 konnten Fresken mit deutlich erkennbarer Jahrzahl 1693 und der Name „Hörtnagl“ mit einer weiteren Inschrift aufgedeckt werden. (Ein nur allzu gewerblicher „Maler“ hat die halb bloßgelegten Fresken ohne Auftrag und ohne Erlaubnis überweißelt!) Viele Lawinenkapellen und Wasserkapellen finden sich im Gschnitztal, so beim Prangerbauer und beim Trogerbauer. Aus der ganzen Anlage erkennt man deutlich die frühere Volksvorstellung, dass diese Kapellen zum Schutz gegen Lawinen und Muren erbaut worden sind. Die Barbarakapelle bei Trins hängt mit alten Wettervorstellungen zusammen. Dort befindet sich auch ein hohes Wetterkreuz.

Die Antoniuskapelle bei Trins ist neueren Ursprunges und wird vor allem von jungen, ledigen Weiberleuten aufgesucht. Die Kalvarienberge gehen wie meist in Tirol auf späte Zeit zurück. Der Kalvarienberg in Steinach wurde vom Patrioten Georg Nagele um das Jahr 1800 erbaut.

Die Nothelferkapelle beim Plattl in Gries war besonders von den Fuhrleuten in alter Zeit verehrt. Der „blinde Herrgott“ in Padaun wird noch heute bei Augenleiden gern aufgesucht. Ursprünglich befand sich das wundertätige Kreuz inmitten der Steilwände am Wallenstein; im Jahre 1809 wurde das Kreuz — wie die Sage erzählt — in eine Kapelle beim Larcherhof versetzt. Anlässlich des Wegbaues um 1900 wurde die alte Kapelle neuerdings abgebrochen und neben dem neuen Weg errichtet, wo sie heute steht. Sehr interessant als seltene Votiv-Gaben sind die „Wachs-Augen“ als Gelöbnis für Heilung von Augenleiden. Der Tiroler Volksschriftsteller Reimmichl (Seb. Rieger), der lange Jahre als Kurat in Gries am Brenner wirkte, bezog den Padauner Blinden Herrgott in seine Erzählung „Die schwarze Frau“ (1907) ein.

Die sogenannten Totenkapellen in oder bei den Friedhöfen sind nicht selten von Totensagen umwoben. Solche Totenkapellen hat es in alten Zeiten viel häufiger gegeben, denn der Weg zum Friedhof von Mauern war weit entfernt. So haben die Tuxer ihre Toten in Obern in Schmirn beim Steckholzerhaus in einer einfachen Kammer eingestellt, die als Totenkapelle diente. Ein in der dortigen Stube hängendes Kreuz von besonders ergreifender Darstellung, das einen Teil der Stubenwand einnimmt, dürfte früher in der Totenkammer gehangen sein. 94)

94) Sämtliche Wipptaler Kapellen müßten in eigener Darstellung ähnlich behandelt werden, wie die Tiroler Bildstöcke durch Jos. Weingartner.

Im Gegensatz zu den Gründungssagen von Kirchen und Siedlungen leben im Volk noch Erinnerungen an aufgelassene und zugrunde gegangene Siedlungen weiter. Im Wipptal sind es zwei Bergsiedlungen, die beide schon im 13. Jahrhundert bestanden haben (1288), aber schon zu Ende des Mittelalters infolge der großen Höhenlage und Wildnis der Natur aufgelassen worden sind: Laponnes und Padaster. In beiden Fällen lebt die Erinnerung weiter, dass selbst in solch abgelegener Wildnis Menschen Sommer und Winter gehaust haben. Sowohl im Padastertal als auch in Laponnes werden die Spuren von früheren Häusern und Wohnstätten gezeigt. Im Padaster ist auch die Erinnerung an früheren Ackerbau lebendig. In Laponnes halten die sogenannten „Häuserfelder“ die Erinnerung an frühere Wohnstätten fest.

Der Sage nach lebten die Bauersleute auf Laponnes ein ganz einfaches, ärmliches Leben. Zum Schlusse hatten sie kein Vieh mehr, sondern nur noch Geißen, und zwar „soviele Geiße, dass sie am Morgen beim Fürkehren eine ganze Reihe vom Stall heraus bis zu den Weideplätzen bildeten. Wenn die letzten beim Stall herausgingen, waren die ersten schon an den Wänden droben.“ Am Ende lebte nur noch der alte Bauer mit seinen drei Töchtern in der Einöde. Da wurden die Töchter stolz und wollten nicht mehr bleiben. Sie heirateten nach Gschnitz hinaus und haben dabei stolz gemeint: „Wir heiraten aufs Land!“ (Pranger.)

Im Gegensatz dazu sind die letzten Bewohner der Siedlung von Padaster beim Kirchgang nach Steinach am sogenannten „Küeh-Toad“ von einer Lawine verschüttet worden. Beide Siedlungen werden um das Jahr 1500 in den Zinsbüchern als Almen angeführt.

Quelle: Wipptaler Heimatsagen, gesammelt und herausgegeben von Hermann Holzmann, Wien 1948, S. 211 - 229.