Naturdämonen und Riesengestalten

Die Berge waren belebt von geheimnisvollen Geistern und mythischen Wesen aller Art. Nach der einfachen Volksvorstellung hat besonders in abgelegenen Bergen und dunklen Wäldern das Riesenvolk gehaust, eine Vorstellung, die dem Denken unserer Bergbewohner ganz allgemein entspricht. In den Bergen machen wir immer wieder die Beobachtung, dass die schreckhaft wütenden Naturkräfte personifiziert und zu riesenhaften Lebewesen gestaltet worden sind. Wasser und Wind, Lanen und Muren, Schnee und selbst fallende Sterne waren in ältester Zeit als persönliche Lebewesen gedacht, die irgendeine geheime, nicht verstandene Naturkraft verkörperten.

Daher ist es zu verstehen, dass viele gefährliche „Gissen“ nicht als die Gisse bezeichnet wurden, sondern als „Güsser“, so der Außer- und Inndergüsser in Schmirn. Das einfache Alpenvolk hat sich böse Erdgeister vorgestellt, von denen die Muren und Güsse zu Tal gewälzt werden. Solche Gissen finden sich ja in allen hochgelegenen Bergtälern, sowie - eine Menge von Flur- und Ortsnamen damit in Zusammenhang gebracht werden kann.

Auch im häufigen Namen „Lauern“ verbirgt sich eine körperliche Vorstellung (Egger). Wenn man auch im Volk von der Lane spricht, also mit weiblichem Geschlecht, so werden die Langänge selbst als Laner bezeichnet. In diesem Namen liegt etwas ganz Persönliches. Man sieht beim Klang desselben, wie der Schneegewaltige oben seine Massen anhäuft und dann zu Tale wälzt. Noch im Sommer trägt die Schneebahn seinen Namen. Die „Laune“ steht als Schneefurie neben dem Gysser, der entfesselten Erde. Eigentlich bedeutet „Laune“ der warme Lufthauch, der die Schneemassen „auflaut“ und in Bewegung bringt. Lebendig wird der Name besonders im „Wilden Launer“, „Breiten Laner“, „Roten Laner“ und „Finstern Laner“. 16) Dass man sich den Laner in alten Zeiten als persönliches Ungetüm vorgestellt hat, spiegelt sich noch leise aus dem Schmirner Sprichwort: „Die Laner und die Güß-Striche suchen zur Zeit ihr Röcht!“ 17)

16) Verfachbuch des Landgerichtes Steinach 1558, Fol. 36, im Staatsarchiv Innsbruck.
17) Egger, Flurnamen, S. 542.

Mögen zehn oder hundert oder mehr Jahre vergehen, einmal kommt der Laner wieder und frisst sich durch den angewachsenen Hochwald die Bahn zur Behausung des Menschen. Seit 1867 hatte der Stammhof beim Yssler in der Schmirner Leite Ruhe vom Langang, „aber einmal wird sie wieder kommen“, sagt sich der dortige Bauer Peter Gratl jeden Winter!

Diese gefürchteten Laner haben sogar ganzen Tälern und Ortschaften den Namen gegeben, so Lanersbach und Breitlahner, Wildenlahner in Schmirn. Ein oft furchtbarer Eisdämon ist der Ferner, der Vereiset, der Erstarret. 18) Auch der Ferner ist oder war vielfach als persönliches Lebewesen gedacht. Eine solche Vorstellung spricht aus der derben Benennung „der arschete Ferner“.

18) Mitgeteilt von Peter Gratl, Yssler-Erbhofbauer bei Hochgenein.

In vielen Teilen Tirols gibt es Sagen über die Entstehung der wildzerklüfteten Ferner. Eine solche Sage wird vom sogenannten Schmirner Ferner erzählt:

An Stelle des heutigen Schmirner Ferners war einstens eine schöne Alpe mit weiten Matten, wo „bloß Marbl und Mataun“ (bestes Berggras) wuchs. Die Alm aber hat einer Witwe gehört, der sie nun ein Bauer streitig machen wollte. Voll Spott und Hohn hatte er die arme Wittib vertrieben, die sich nun an den Richter wandte, der ihr Recht sprechen sollte. Aber da ist der Bauer mit der Wittib und vielen anderen auf die Alm hinauf, dort hat er einen Kreis gezeichnet und stellte sich in den Kreis hinein. Schon zuvor hatte er Erde von seinem eigenen Acker in die Schuhe gesteckt und dann verbarg er unter dem Hut einen „Schöpfer“ (Schöpflöffel). Darauf schwor er einen leiblichen Eid mit auf gehobenen Fingern:

„So wahr mein Erde unter mein
und der Schöpfer (Gott) über mein!
So g’hört die Albe mein!“

Dieser Schwur musste gelten. Unter Verwünschungen zog die Wittib hinunter ins Tal. Aber in derselben Nacht hätt der „Gamsjockl“ (so wird in Schmirn der Tuifel genannt!) den vermessenen Falschschwörer geholt. Schnee und Hagel fielen hernieder und tagelang nahmen sie kein Ende mehr. Haag und Kaser, Vieh und Mensch wurden unter den riesigen Schneemassen begraben. Und die Alm aperte nimmer aus, „weil eine Seele darin verloren gegangen ist“. Heute noch heißt man's beim „Schmirner Ferner“. (C. Gr.) 19)

19) Egger, Flurnamen.

In ähnlicher Weise erzählt auch eine Sage vom Entstehen dar G’frorenen Wand im Tuxertal. 20)
In diesen Sagen über einstige Almen, wo sich heute nur zerklüftete, wilde Gletscher ausbreiten, lebt die Erinnerung an ein wärmeres Klima in den Alpen, als die Schneegrenze bedeutend höher lag. Diese bekannte Tatsache ließ sich ja in vielen Fällen historisch nachweisen, so in Gastein und Rauris (Salzburg).
Aber auch Winddämonen haben ihr Spiel in vielen Orten getrieben, so auf Windegg, auf Windesnock, Windwurf, an der Windschaufel, am Windbühel, auf dem Plaser, Plasberg und auf der Plase im Padastertal 21), falls sich diese Bezeichnungen nicht etwa auf die Winderscheinungen an sich beziehen sollten . . .

20) Erzählt bei J. Staffler, Tirol und Vorarlberg.
21) Egger, Flurnamen.

Dass diese Vorstellung von riesenhaften Ungeheuern als verkörperte Naturkräfte gerade in der Gegend des Wipptales in Urzeiten beheimatet war, beweist die bekannte Sage vom Silldrachen, der vom Riesen Haymo in Wilten in grimmen Kampfe vernichtet wurde. Dieser Silldrache, das einzige Beispiel einer solchen Sage im Wipptal und wohl überhaupt in Tirol, war nichts anderes als der reißende Sillbach, der jahraus, jahrein die Ansiedlung Wilten bedroht und wohl auch manchmal schwer heimgesucht hat.

Diese Drachensage an der Sill sowie der Drachensee im Mieminger Gebirge stellen die einzige Erinnerung an den alten Drachenglauben dar, aber „sie lassen über das einstige Vorhandensein keinen Zweifel übrig“. 22) Ob auch im engeren Wipptal selbst Erinnerungen an den Drachenglauben nachgewiesen werden können . . .? Den alten Schmirnern ist die Vorstellung vom „Draken“ geläufig, allerdings vermischt sich dieser Glaube mit der Sage vom Wilden Alber und damit wieder mit dem Teufel. (Vgl. S. 75.)

22) Alpenburg, Mythen und Sagen, S. 572.

Der „wilde Alber“ wär in Gestalt eines „Draken“ vom Hüttenjöchl quer über das Tal gefahren. Er war so groß, dass der Schweif noch beim Hüttenjöchl zu sehen war, als der Kopf schon in das Wildenlahnertal fuhr (Cajetan Gratl).

Jedenfalls bestätigt diese Sage, dass wenigstens die alte Vorstellung vom „Draken“ im Volk lebendig war;

der alte Cajetan Gratl erzählt auch, dass „Drakenbluet guet zum Trinken gewesen wäre“, aber wozu es gut war, konnte er sich nicht mehr erinnern, jemals gehört zu haben. Er verglich es ähnlich wie die Sage vom Gänseblut: „Wer Gänseblut trinkt, hat nie mehr zu kalt“.

Das sind wohl die letzten kümmerlichen Überreste eines einmal sicher bestandenen Drachenglaubens im Wipptal, falls nicht auch der Flurname Trackmoos in Obernberg ebenfalls auf den Drachen hinweist. Egger nimmt an, dass das Wort sprachlich ohne Zweifel mit dem oberdeutschen „Tracke“ zusammenhängt. Seltsamerweise befindet sich auch in nächster Nähe, im Villfradertal (Frade) ein Bergmahd, das Wurmburg genannt wird. Wurm bedeutet im Volk soviel wie Schlange, daher die Schlangenburg. Gerade den Schlangen gegenüber besteht noch heute eine fast abergläubische Furcht unter den Bergbewohnern . . .

In Navis erzählt man auch von einem Weißen Wurm, der beim Prechtl-Bauer im Stall gehaust habe. Dort hat ihn eine Dirn jeden Tag mit Milch gefüttert. Viele lange Jahre war diese Dirn beim Hof, bis sie einmal fortgehen musste. Da soll sie zum Weißen Wurm gesprochen haben: „Ich weiß nun nicht, ob Dir die nächste Dirn auch wieder Milch geben wird . . .?“ Dann hat sie geweint. Der Weiße Wurm aber gab ihr zum Dank ein gülden Krönlein .. . (Holzmann Ander.)

Die Furcht vor den Schlangen oder „Beißwürmern“ ist im Volk sehr tief verankert. In Trins lassen sich am „Kinigenabend“ Kinder und Erwachsene Schuhe und Füße vom geweihten Rauch „rachern“, dann beißen die Schlangen nicht. Dieser Brauch ist noch heute lebendig. Im Gebiet von Trins und Gschnitz gibt es viele Schlangen, besonders in den Bergmahdern droben. In alter Zeit aber sind sämtliche Schlangen zwischen dem Trunnabach und dem Steinacherberg gebannt worden. Auch heute noch finden sich dort keine Beißwürmer.

Neben diesen sagenhaften Naturdämonen, die nichts anderes darstellen als die wirkenden Naturkräfte aller Art, die in den kindlichen Vorstellungen der Bergbewohner zu geheimnisvollen Lebewesen gestaltet wurden, gibt es aber auch wirkliche Riesen, deren Gedenken heute noch in der Volkssage lebendig ist. So seien zuerst einige Berge erwähnt, die ausgesprochene Riesennamen darstellen, nämlich die Türschenköpfe und der Türschenbach in Navis (Geierspitze), wohl auch der Rechner — Reckezer — im Navis. Die Türschenköpfe erinnern an den urgewaltigen Tiroler Riesen Thyrsus, der vom Riesen Haymon erschlagen wurde. Das Wort „Thyrsus“ hat früher überhaupt dem heutigen Worte „Riese“ entsprochen. Schon im anglo-sächsischen Heldengedicht Beowulf kommt das Wort in dieser Bedeutung vor. Der vielleicht beste Erzähler des Wipptales, Cajetan Gratl in Schmirn, sagte vom Hoggeneiner Riesen: „Er war ein Thyrsus!“ Es ist nicht feststellbar, ob dabei die landbekannte Sage des Riesen Haymon und Thyrsus irgendwie zugrunde liegt und die Vorstellung beeinflusst hat oder ob es vielleicht die letzte Erinnerung an ein früher häufiges Wort darstellt. 23)

23) Bei Beowulf kommt zum Beispiel, Vers 426, der „Thyrs“ in der Bedeutung „Riese“ vor, der auch im Altisländischen ein Äquivalent in „Thurs“ besitzt. (Vgl. Beowulf, Ausgabe Holthausen, Vers 426.) — Egger erklärt die „Türschenköpfe“ ebenfalls mit „Thurse“, der Riese, Berggeist (Flurnamen, S. 102). Vgl. auch Grimm, Deutsche Mythologie, S. 297 ff.; desgleichen J. Schöpf, Tiroler Idiotikon, S. 744.

Ein Riesengeschlecht mag sich in der einfachen Volksvorstellung auch die „Hohe Purg“ bei Trins erbaut haben. Die vielen Felszacken wurden von der Einbildung des Volkes schon längst als menschliche Gestalten, Berggeistergestalten gesehen und demnach benannt: „Die Burgfamilie, Purgmändler, Purgfrau und Purgfräueler“. 24) Eine Gestalt dieser Bergkuppen schaut aus wie eine Riesenfrau, die ihr Kind hält. Wie eine wirkliche Burg schließt diese Felsgruppe das ganze Trinser Padastertal ab und macht die dahinter liegenden weiten Bergflächen des „Bsigl“ zu einem Tummelplatz von sagenhaften Wesen in der einfach-kindlichen Vorstellung des Bergvolkes. Zu Füßen der Hohen Burg liegt dann der „Falfermann“ und die „Fallffermannswandt“, wie sie schon im Jagdbuch des Kaisers Maximilian genannt wird. Welcher Waldgeist mag dieser Falfermann gewesen sein, der an dieser düsteren, dunkeln Bergwand spukte und von woher die Wetter kamen? . . . Heute ist die „Falfermannswand" zur „Warweleswand“ verunstaltet, wohl mit Rücksicht auf das kleine St Barbara-Kirchlein, das dem gegenüber errichtet worden ist — gleichsam zum Schutz gegen heidnischen Spuk und gegen die Wetter? Darauf wird noch später Bezug genommen. 25) Auch in Gschnitz gibt es eine Burg.

24) Egger, Flurnamen, unter „Hohe Burg“.
25) Egger, Flurnamen, unter „Falfermann“.

Zu dem Riesengeschlecht gehört auch der Glungezer, der in einer Höhle hauste, deren Gewölbe den Gipfel des nach ihm benannten Berges bildet. Einstmals kam er in die Tulfein, sah die vier Töchter des Hirtenkönigs und warb um ihre Hand, bekam aber vier Körbe. Aus Rache schleuderte er einen halben Berg auf sie hinunter, so dass Burg und Leute untergingen in einem See, von dem noch der schwarze Brunn übrig ist. Nachher aber reute ihn seine Tat und er trauerte dort um die Umgekommenen. Er verwünschte sich in einen Zwerg und die vier Königstöchter kamen wieder als Salige oder Seejungfern. Jedoch will er eine fassen, lösen sie sich in Nebel auf, der Zwerg plumpst ins Wasser und kühlt im Bade seine Liebesglut 26).

26) Vgl. Alpenburg, Mythen und Sagen, „Der Glunkezer Riese“, S. 35.

Glungezer ist nach Egger ein ausgesprochener Riesenname so wie Tukser und Reckezer 27). Der Bergname Reckner weist schon dem reinen Namen nach auf einen Riesen hin (Recke).

27) Vgl. Grimm, Deutsche Mythologie, S. 297.

Ein Sturmdämon, der als Wilder Jäger schonungslos über Feld und Wiese, Wald und Weide reitet, der Hirten und Herden niederstampft, ist der Riese Serles. Er reitet mit seinem wilden Weibe und seinem wilden Ratgeber auf Jagd aus. Wie er einen widerstrebenden Hirten zerreißen will, bricht des Himmels Zorn über seine Untat los. „Es entstand in der Luft ein Brausen und Sausen und ein entsetzliches Ungewitter, und als das vorbei war, da war vom König Serles, seinem Weibe und seinem Rate nichts mehr zu sehen, sondern drei Eisgipfel starrten himmelhoch empor, der mittelste war König Serles, zur Rechten sein Weib, zur Linken sein Rat!‘‘ Diese Sage erinnert an die Watzmannsage 28).

28) Alpenburg, Mythen und Sagen, S. 34.

Eine uralte Sagengestalt, die besonders im Wipptal, aber auch in anderen Gegenden Tirols heimisch war, ist nun „Der Wilde Mun“ 29).

29) Die Sage vom Wilden Mann findet sidi überall im Wipptal, desgleichen in anderen Gegenden Tirols. In den versdriedenen Sammlungen von Sagen scheint daher diese Gestalt vielfach auf.

Fast in allen Seitentälern des Wipptales und in den meisten Talschaften lebt die Sage bis heute in verschiedener Weise, aber doch einheitlich fort.

Im Valsertal erschien der Wilde Mun im Frühjahr und rief den Bauern mit lauter Stimme von den Berghängen zu:
„Baur’n! ’s ist Zeit zum Haud’n und zum Baud’n!“
Dann spannten die Bauern die Ochsen unter das weite Bergjoch und rissen mit dem hülzernen Pflug die dampfende Erde auf, um sie für die Aufnahme des Saatkornes vorzubereiten.
In Schmirn war es die Gestalt des „Gamsgoaßers“, der dort die Gemsen gehütet hat und Sommer und Winter in freier Wildnis gelebt haben soll. Der Gamsgoaßer hat immer gesagt: „Die Gemsen sein grad recht wild, dass sie niemand bekommen kann als er!“ Eifersüchtig schützte er das Wild gegen die Menschen. Einmal aber wurde er von den Häschern des Gerichtes Steinach mit List gefangen; geduldig ließ er sich in Ketten legen und abführen. Aber beim Padastertal, wo der Weg vorbeiführte, sprengte er plötzlich die Ketten und rannte den Berg hinauf — über alle Jöcher in sein freies Bergrevier nach Schmirn. Die Menschen konnten ihm nichts anhaben. (Cajetan Gratl.)

Wer erinnert sich bei dieser so volkstümlich romantischen Sagengestalt nicht an das schöne Bild von Mathäus Schiestl: Der Gamshüter aus dem Zillertal . . .?

„Mei Hoamat is oben, am Löffler schneeweiß,
Mei Häusal is gmauert aus Schnee und aus Eis.
Die Gamsl, die springen mir zuacha zur Wand
Und d’ Stoaböck, die fressen mir zahm aus der Hand.“

Die Gestalt des „Gamsgoaßers“ ist auch im Navistal bekannt. Seine Heimat war vor allem das Tarntal, dann Lizum und das Mölstal. Die Gemsen sind ihm ganz zahm wie die Schafe und Geißen nachgesprungen. Dann haben ihn die Häscher einmal erwischt und talauswärts geführt. Beim Muiggen Jörgl ist er auf den Ofen hinauf und hat sich gewärmt. Muiggen Jörgl habe gesagt: „Itzen kommst du nimmer aus . . .“ Er hat aber gelacht und gemeint, er müsse noch etwas Tabak schneiden, dann gehe er. Darauf hat er auf dem bloßen Knie Tabak geschnitten — das wird auch als „übermenschlich“ betrachtet — und ist davongegangen, als wenn nichts wäre . . .
Der Gamsgoaßer fand auf einer Almhütte in Möls sein Ende, und zwar ist er im Rauch erstickt, da er die ganze Hütte voller Gamsfleisch zum Räuchern aufgehängt hatte. „Gewöhnlicher Mensch war der Gamsgoaßer nicht“, sagen die Leute, aber es war auch nicht der Gamsjockl (Tuifel). (Rögiler.)

Besonders lebendig hat sich die Sage vom Wilden Mun im Obernberger Tal erhalten, wo dieser seltsame Riese im abgelegenen Berggebiet des Tribulaun gehaust hat. Nur selten ließ er sich von Menschen sehen, obwohl er ihnen nicht unfreundlich gesinnt war. Aber trotzdem wollte er zeitweise seinen Tribut verlangen. So hat er manchmal heimlich den Fuhrleuten auf einsamer Landstraße aufgepasst, dann hob er die Weinpanzen wie ein Krüglein von der Achse und trank sie in wenigen Zügen leer. Wehe, wenn sich ein Fuhrmann gewehrt hätte. Gleicherweise stahl er den Bauern von Obernberg Vieh. Aber sein Gehaben gereichte den Bauern auch zum Nutz und zum Segen, wenn sie ihn gewähren ließen. Wehe aber, wer ihn herausforderte! So ist er einmal mit riesigen Schritten über das Villfrader Joch gegen den Tribulaun gewandert, übermütige Burschen haben ihn dabei von der anderen Talseite her gescholten und verspottet. In seiner Wut hat der Riese einen Felsblock von der anderen Talseite bis zum Leitner Joch geschleudert, den man heute noch zwischen Waldgrenze und Lichtsee sehen kann. (Fürst.) Nach einer anderen, noch ursprünglicheren Darstellung sollen sich zwei Riesen daran beteiligt haben, nämlich der Wilde Mun und seine Frau, gleichfalls eine Riesin. Der Wilde Mun trug den schweren Stein bis unterhalb des Lichtsees, wo ortskundige Leute noch heute die Eindrücke zeigen, die der Riese beim Niedersitzen und Rasten wie ein Merkmal hinterlassen hat. Auch der Felsblock liegt noch an derselben Stelle. Seine Frau habe einen kleineren Stein getragen, aber nur bis zur Waldgrenze hinauf, weiter sei sie nicht gekommen. Diese Sage erinnert sehr an die keltische Walessage vom Riesen Cormoran und seiner Frau Cormelian. (Borthe.)

Wie in anderen Bergtälern stellte der Wilde Mun auch im Obernberger Tal das Sinnbild des Langes (= Lenz) dar. In dieser frohen Zeit, wenn die Wasser von den Hängen stürzen, wenn die Lanen niederkrachen, tauchte er aus der Wildnis seiner Berge und rief den Bauern mit weithin hallender Stimme zu: „Bau’rn! ’s ist Zeit zum Haud'n und zum Baud’n!“

So hielten sich die Bauern stets an das Erscheinen des Wilden Mun, der ihnen — wie es im Tal Navis erzählt wird auch sonst sehr behilflich war und gute Ratschläge erteilte. Einmal aber geschah es, dass der Riese einfach nicht erscheinen wollte, obwohl die Sonne schon warm über Acker und Flur brannte. Viele Bauern konnten es nicht mehr erwarten. Sie hatten alles Vertrauen auf den Wilden Mun verloren und glaubten, es wäre ihm über den langen Winter etwas zugestoßen. So spannten sie die Stiere vor den Pflug und säten mit ehrfurchtsvollen Händen die heilige Gabe in das dampfende Erdreich. Aber wieder wurde es Winter und das Korn erstickte unter der weißen Schneelast. Nun erst erschien der Wilde Mun und als er sah, dass die Bauern auf sein Kommen nicht gewartet hatten, schrie er zornig: „Habt’s mi g’fragt! Hatt i’s g’sagt!“ (Fürst.)

Fast in allen Tälern des Wipptales sind diese Worte gleichzeitig in Verbindung mit seinem Verschwinden überliefert worden.

In Navis soll der Wilde Mun bei seinem Verschwinden gesprochen haben:
„Hättet ihr mich viel g’fragt, Hält ich viel g’sagt!
Ich hätt euch gelernt,
aus der Jutte Wachs machen, und ich hätte euch gesagt, wofür das Kreuz in der Nüsse gut ist.“
Die Bedeutung des letzten Ausspruches ist auch den Bauern nicht verständlich, aber es scheint sich um die Enthüllung eines Geheimnisses gehandelt zu haben. Nach anderer Erzählung hätte er den Bauern, wenn sie gefragt hätten, zeigen wollen, wie man aus Kuhdreck Butter mache. (Rögiler.)

Darin spiegelt sich vielleicht der Volksgedanke wieder, dass diese Sagengestalten tatsächlich für die Alpenbewohner die Rolle eines Lehrmeisters spielten!

In Navis wird die Sage vom Wilden Mun in anschaulichen Bildern erzählt. Wie in anderen Tälern ist er im Langes erschienen und hat den Bauern zugerufen: „Manndler baut, Weibeler haut!“ Jedes Jahr erfolgte im Langes diese Ankündigung vom „Geirstoan“ am „Gänsetröterberg“, wo man seine Fußstapfen auf dem dortigen Steinblock heute noch sehen kann. Der Stein befindet sich etwa eine halbe Stunde oberhalb des Halderhofes; die etwa ein Meter breiten Eindrücke der „Grieten“ (Fußspuren) sind noch gut zu sehen. (Rögiler.)

So wie in Navis ist der Wilde Mun auch auf Hochgenein, Schirm und Vals nicht mehr erschienen, weil die Bauern auf sein Erscheinen im Langes nicht gewartet hatten. (Caj. Gratl, Hans Gratl, Lutzer.)

Aber in Obernberg wird noch folgende Geschichte im Zusammenhang mit dem Wilden Mun erzählt: Da passte ein kleines Bäuerlein namens Procker dem Wilden Mun auf, da er ihm Vieh gestohlen hatte. An einem warmen Nachmittag im Langes sah das kleine Männlein den Riesen, wie er sich gemütlich an die Felswand beim Schwalbenschrofen lehnte, um sich zu sonnen. (Welch köstliches Bild bietet doch diese einfache Vorstellung!) Der Wilde Mun muss seit dem langen Winter ganz ausgefroren gewesen sein. Nun schlich sich das kleine Männlein hinzu und schoss dem Riesen seine Pfeile in den mächtigen Körper. Wütend vor Schreck und Schmerz bäumte sich der Riese auf und jagte dann dem entsetzten Bäuerlein nach, das sich geschickt wie eine Maus durch das Dickicht wand, zum Padrinser See hinab. Dort gelang es dem kleinen Wicht, sich im Gestände zu verbergen, so dass ihm der Riese nichts antun konnte. Vor Wut hat er dann haushohe Felsstücke in den See geschleudert, dass die Wasser hoch aufspritzten und das Männlein vor Angst zitterte. Aber seit diesem Tage war der Riese für immer verschwunden und ließ sich nie mehr sehen und nie mehr hat er im kommenden Langes den Bauern mit hallender Stimme die Zeit zum Bauen angekündigt. (Fürst.)

Wer erinnert sich bei dieser Sage nicht an die griechische Sage vom Riesen Polyphem, der dem fliehenden Odysseus mächtige Felsblöcke in das Meer nachgeworfen hatte, so dass die Wellen hoch aufspritzten und das Schiff fast unterging?

In fast menschlicher Form lebte die Gestalt des Wilden Mun beim sagenumwobenen Hochgeneiner Hof und im anschließenden Padastertal. Jeden Langes kündete er auch dort vom Jodi aus den Bauern die Zeit zum Bauen. Dem Hochgeneiner Hof war er besonders zugetan. Er hielt sich dort zu Winterszeiten auf und kam an kalten Wintertagen sogar in die Stube, wo er gesprochen hat: „I mueß mi grod a bißl wärmen! Mir ist soviel zu kalt! Dann geh ich wieder durch!“

Der Sagengestalt des Wilden Mun sind in allen Formen und Erzählungen viele menschliche Züge eigen. Aber nirgends ist die anthropomorphe Form soweit gegangen, wie bei der Erzählung am Hochgeneiner Hof, wo der Riese in seinem ganz allgemein menschlichen Bedürfnis nach einem warmen Herd alle Scheu überwunden und eine menschliche Behausung aufgesucht hat.

Außerdem hat der Wilde Mun sogar in diesem einzigen Fall eine wirkliche menschliche Verbindung eingegangen, da er einer Tochter des Hochgeneiner Bauern in heimlicher Liebe zugetan war. Das Kind, das dann zur Welt kam, erbte die Urstärke des Vaters und wurde zum talbekannten „Hoggeneiner Riesen“. (Cajetan Gratl und Hans Gratl.)

Wir erblicken darin das einzige Beispiel für das Wipptal, daß übermenschliche Sagengestalten mit gewöhnlichen Menschenkindern in leibliche Verbindung gekommen sind 30).

30) Auch Alpenburg erwähnt diese sehr seltene Eigenschaft der Riesen; s. Alpenburg, Mythen und Sagen, S. 15 oben.

Wenn schon die Sage über den „Wilden Mun" im Volk so tief verwurzelt ist, so nimmt es uns nicht wunder, dass sein Gedenken auch in einigen Berg- und Flurnamen immer noch weiterlebt. Ob der auf steiler Höhe und schon um 1300 erwähnte Waldmannshof auf Egg bei Vinaders auf den Wilden Mun hinweist, steht nicht fest, da es sich auch um einen Personennamen handeln kann. Einen Waldmann gab es auch in Obernberg. Nach Egger würde vielleicht der Flurname „Mune“ bei Steinach auf den Wilden Mann hinweisen, aber die „Mune“ hängt wohl mit dem Mond zusammen. Demgegenüber hält der Gasthof „Wilder Mann“ in Steinach zweifelsohne diese Erinnerung fest. Auf der Gleinser Höhe breitet sich das sagenumwobene Wildmoos aus, wo schon in einer Grenzurkunde von 1343 auch der Wiltmanfueß-Pach erwähnt wird, was bestimmt auf den Wilden Mann selbst anspielt 31).

31) Egger, Flurnamen, S. 500.

Gerade die Gestalt des Wilden Mun wurde früher und wird noch heute auch in Fasnachtsumzügen dargestellt, wie A. Dörret in seinem Werk „Fasnacht in Tirol“ veranschaulicht. „Seine Person, behaart und mit Moos behangen, mit Baumrinden bedeckt, weist auf das gemeindeutsche und noch viel ältere Bild vom Waldgeist hin.“ (Egger.) Der alte C, Gratl behauptet ganz ernst: „In alten Zeiten hat es halt Wilde Mannder geben!“

Was soll es nun mit dieser Sagengestalt? Irgendeinen wirklichen Hintergrund muss sie doch haben, weil sie so lebendig durch alle Jahrhunderte weiter gelebt hat. Vielleicht, dass die Ansicht des Bozner Heimatforschers Karl Felix Wolff den richtigen Sinn erfasst, wonach es sich um die vorbajuwarischen Bewohner der Berge handeln dürfte. Diese haben den späteren germanischen Eroberern den Eindruck von wilden Männern gemacht, zumal sie in die abgelegensten Berggebiete geflohen sein dürften. Andererseits aber waren sie mit der Natur der Berge vertraut und heimisch, wogegen die fremden Eroberer die Bergnatur mit allen Eigenarten erst kennenlernen mussten. So entstand vielleicht in mancher Beziehung eine gegenseitige Abhängigkeit. Die Urbewohner wurden die Lehrmeister für die neuen Eroberer im Almwesen (siehe „Butter aus Kuhdreck machen!“). Der Wilde Mann kündete daher auch die beste Zeit des Anbauens, weil ihm die Natur der Berge vertraut war, aber nur selten kündet die Sage von einem ausgesprochen freundlichen Verhältnis, so wie im Beispiel von Hochgenein 32).

32) K. F. Wolff, Alte Randvölker der Alpen, in: Schlern, Jg. 1933, S. 197.

Neben diesen sagenhaften Riesengestalten hat es im Wipptal auch wirklich riesenstarke Menschen gegeben, deren Gedenken noch heute im Volk weiterlebt und deren Taten einen sagenhaften Ruf erworben haben. So hat das Wipptal seine Heldensagen. Zwar sind diese Sagen nie in Verse gesetzt worden, zwar künden keine schriftlichen Überlieferungen davon, aber im Volk lebten und leben sie weiter und werden auf Kinder und Kindeskinder übertragen. Ihre größte Blüte hatten sie zu der Zeit, als noch die Feuer auf offenem Herd gebrannt haben, während die nüchterne und hastige Gegenwart eine große Gefahr für solches Sagengut darstellt.

Eine dieser Heldensagen ist die Erzählung vom Hoggeneiner Riesen, dessen Gedenken im Wipptal immer weiterleben wird: 33)

33) Um eine möglichst getreue Darstellung zu erzielen, stützt sich folgende Erzählung auf die Aussagen des alten Cajetan Gratl, der vom Hochgeneiner Hof in dritter Generation abstammt, sowie auf die schriftliche Aufzeichnung von Franz Gratl, dem bekannten Wipptaler Heimatforscher und Besitzer des Hochgeneiner Hofes, der — seines Berufes Rechtsanwalt — seines Hofes wegen durch fast 30 Jahre mit der Gemeinde Steinach in Streit stand. (Innsbrucker Nachrichten, 31. 12. 1912.) (In der Sagensammlung von Karl Paulin, 250 der schönsten Sagen aus Nordtirol, wurde diese Sage leider ziemlich entstellt wiedergegeben!)

Der höchste und abgelegenste Hof im Wipptal ist der Hoggeneiner Hof, der in einer Höhe von 1668 Meter knapp unter dem Bergjoch am Eingang ins Schmirntal gelegen ist. Mehr als eine Stunde benötigt man von St. Jodok auf steilen Wegen bis zum Hof hinauf. Steil sind Felder und Äcker. Bis zum nahen Joch hinauf dehnen sich die Fluren. Mühsam und hart gestaltet sich die Arbeit auf solchem Bergbauernhof — aber wunderbar strahlt die Sonne im Sommer und noch mehr fast im Winter. Bis auf die Nederseite wirft es einen leisen, schimmernden Widerschein. Das Getreide gedeiht infolge der langen Sonnenbestrahlung besser als im Tal und ist auch früher reif.

Schwarzgebrannt von Sonne und Sturm, von Wind und Alter, sind die schweren groben Holzbalken des Hauses, aber immer noch steht Haus und Hof und es hat länger ausgehalten als viele Marmorburgen. Auf diesem Hof soll der Hoggeneiner Riese gelebt haben — doch nein — er soll nicht gelebt haben, sondern er hat wirklich gelebt. Dies lässt sich das Volk nicht abstreiten! Es ist stolz auf seinen Hoggeneiner Riesen!

Es wurde schon erzählt, dass der Wilde Mun in alten Zeiten vom Padastertal gekommen ist und den Hof in kalter Winterszeit aufgesucht hat. Einer blonden Tochter des Hochgeneiner Bauern war er in heimlicher Liebe zugetan. Ihr Kind erbte dann die Urstärke des sagenhaften Vaters. Sonst aber war es doch ein Mensch wie alle anderen. Diese Sage, die von mehreren alten Wipptalern unabhängig voneinander erzählt wurde, kann als einziges Beispiel dafür gelten, dass ein sagenhaftes, mythisches Wesen mit Menschenkindern eine Verbindung eingegangen hat. Auch vom Zillertal werden ähnliche Vorstellungen überliefert.

 „Der Hoggeneiner Ries war stark wie ein Stier“, erzählen die alten Gratl, die noch auf dem Hof geboren worden sind. Er hat „Kühpech gegessen und Heuschrecken, die über den Zaun springen“, deshalb war er so stark. Damit meinte er aber Butter und Hirschfleisch. „Er war so stark, dass er mit einer Hand einen Mehlsack gestemmt hat“, wusste der 89jährige Lutzer von Vals zu erzählen.
So ist einmal brenneraufwärts ein Fuhrwerk gefahren, das nicht mehr weiterkommen konnte. Wohl suchte der Fuhrmann herauszuschinden, was nur möglich war, aber die Rösser brachten den Wagen nicht mehr vom Fleck. Da kam der Hoggeneiner Bauer mit einem Stiergespann daher. „Hei“, meint er, „ein solches Fuhr’l nit amol derziach’n . . .?“ Da fragt ihn der Fuhrmann um einen Vorspann, grad das steile Eck hinauf. Doch der Hoggeneiner Ries lacht ganz grimmig und spottet: „Ein solches Fuhr’l . . .? Da brauchts doch kein Fürspann nit! Das ziechn meine Stierlen alleinig!“ Der Fuhrmann fährt auf und will es nicht glauben. Wort ergibt Wort. Dann lässt er sich mit dem Hoggeneiner Riesen zu einer Wette herbei; denn der Hoggeneiner wollte den Wagen mit seinen zwei Stieren allein den Brenner hinaufbringen. Aber er selben müsse auch ein bissel heben dürfen. Der Fuhrmann spannt die vier Rösser aus und der Hoggeneiner setzt die Stiere an. Und richtig, der Wagen setzt sich langsam, in Bewegung, brenneraufwärts. Der Fuhrmann geht neben dem krachenden Wagen und kann es kaum glauben. Er staunt und schaut. Schäumend und mit hängenden Zungen trotten die Stiere dahin und drücken ihren massigen Kopf tief unter das schwere Joch. Der Hoggeneiner hatte die Wette gewonnen. Aber der eiserne „Foßnagel“, wo das Joch eingehängt wird und wo sich der Hoggeneiner dann selber noch einhängte, war ganz krumm gebogen, so sehr hatte er mit seiner Riesenkraft mitgezogen.

Dann geschah es, dass ein anderer Riese von Bayern in das Land Tirol gekommen ist, der Ritter und Knechte zum Zweikampf herausforderte. Aber keiner der Ritter wagte es, ihm entgegenzutreten. Die Kunde von diesem Riesen drang zum Hoggeneiner, der treuherzig meinte, da müsse er wohl selber eingreifen, er oder seine Buben, um die Ehre des Landes zu retten. So setzte er seine zwei starken Buben auf die Probe, wer von ihnen der stärkste wär:
Zur Probe sollten seine beiden Bueben den großen larchenen Hackstock über das Hausdach werfen. Zuerst fasste ihn der Jüngere an und warf den Daxstock in hohem Bogen auf das Hausdach, aber er kam nicht weiter als bis zum First. Der zweite warf ihn schon fast auf die andere Seite, aber er streifte noch das Dach. Da meinte der alte Ries: „Mueß halt selber werfen.“ Und er nahm den Hackstock und warf ihn mit ungeheurer Kraft über das Dach hinaus und noch weit darüber hinweg, „so dass der larchene Stock noch eine tiefe Schramme in den Boden riß“. Daher machte er sich selbst auf die Reise, den bayrischen Riesen zu bezwingen.
Weit über das ganze Land hatte sich die Kunde verbreitet, dass sich der Hoggeneiner Riese zum Kampfe stelle. Ritter und Herr, Bauer und Knecht sind nach Hall gekommen, um den seltenen Zweikampf zu erleben. Der Riese von Bayern war neun Fuß groß, schlank und kampfgewandt, während der Hoggeneiner Ries nur acht Fuß maß, jedoch viel breiter und stärker gebaut war. Einen Brustkorb hatte er „wie ein Panzele Wein“. Außerdem war er viel älter und hatte graue Haare.
Die beiden Riesen trafen sich nun in Hall zu vereinbarter Stunde, umstanden von einer ungeheuren Volksmenge. Als der bayrische Riese den Hoggeneiner Freibauern sah, lachte er und meinte spöttisch, ob man denn in Tirol nichts besseres bieten könne. Doch der Hoggeneiner Bauer wurde zornig und fragte mit heiserer, rauer Stimme ganz kurz:
„Drucken oder springen?“
„Drucken“, gab ihm da lachend der Bayer zur Antwort, „dass dem Tiroler nicht gar zu weh geschieht, wenn ich ihn zu Boden leg.“ Kaum gesagt, fassten sich die beiden. Der Hoggeneiner Ries knirschte vor Wut über den Spott. So wie er einmal zufasste, fing er zu „drucken" an. Da hat der bayrische Ries noch gegurgelt und geröchelt, aber kein Wort mehr hervorgebracht. Mit seiner ungestümen Bärenkraft hat ihm der Hoggeneiner Ries beim ersten Anprall den Brustkorb eingedrückt. Dunkles Blut ist dem Bayern aus Mund und Nase gespritzt.

Die Haller sollten hernach auch das bekannteste, schier unglaubliche Kraftstück des Hoggeneiner Riesen erleben und mit eigenen Augen sehen. Die Haller wussten, dass der Riese stark war wie ein Bär. Sie wussten, dass er mit einer Hand die Salzsäcke stemmen konnte wie im Spiel, aber sie wollten ihn auf die Probe stellen. Es kam zu einer Wette. Der Riese sollte so viel Salz jährlich frei bekommen, so viel er von Hall aus auf seinen gegen zwölf Stunden entfernten Berghof tragen konnte. Der Riese lud sich nun sieben Fudermaß, das sind vierzehn alte Zenten oder ungefähr 600 Kilogramm auf seine mächtige Kraxe. Dann machte er sich langsam und bedächtig auf seinen Weg heimzu, gefolgt vom ganzen Volk. Denn niemand konnte glauben, dass er mit solch gewaltiger Last auch außer die Mauern des Städtleins kommen würde. Als aber der Riese gemütlich durch das Städtlein stapfte und dann über die uralte Salzstraße gegen Ellbogen schritt, da fürchteten sich einige der Bürger und blieben langsam zurück. Die anderen aber wollten ihn noch weiter auf die Probe stellen und schlichen ihm immerfort heimlich nach und dachten, nun müsse er absetzen und rasten. Er hat sich um das neugierige Haller Volk wenig gekümmert, sondern ist immer gleich rüstig einhergeschritten. Als er dann zu den Dörfern des Mittelgebirges kam, erinnerte er sich an eine „eiserne Ögit“ (Egge), die er bei einem Schmied bestellt hatte. Um sich den weiten Weg zu ersparen, lud er sich die „Ögit“ kurzerhand noch oben auf und stapfte wieder weiter. Die Leute aber haben geschaut und gestaunt und konnten sich solche Stärke nicht mehr erklären. Die meisten kehrten wieder heim zu, einige aber folgten ihm trotzdem auf der alten Salzstraße nach Ellbögen nach. An einer Stelle hingen Kirschzweige weit über den Weg hinein, mit frischen, saftigen Kirschen behangen. Da blieb der Riese zum ersten Mal stehen, pflückte mit der Hand einige Kirschen herunter, dann schlug er sogar mit dem langen Stock auf die Äste, ohne aber die Last niederzustellen. Bei solchem Anblick fasste die ungläubigen Haller die helle Angst; denn „solch unheimliche Stärke konnten sie nit mehr ergründen“. Seit dieser Zeit ist der Hoggeneiner Hof salzfrei und er wäre es heute noch, sagt der alte Hans Gratl, „wenn es rechtmäßig zuging!“

Auch in Kriegsdiensten stellten die Hoggeneiner ihren Mann und waren dem Landesfürsten treu ergeben. Zum Dank dafür hat der Landesfürst dem Riesen das Recht gegeben, dass er mit seinem Waffenhammer Grund und Boden erwerfen dürfe. Und der Hoggeneiner Ries hat den Hammer weit über das Bergjoch geworfen bis ins Padastertal hinunter. Andere wieder sagten, er wär auf dem Joch gestanden und hätte von dort aus den Hammer nach beiden Seiten geworfen. Das Wesentliche an dieser Besitzergreifungssage weist ganz allgemein auf das germanische Recht hin. 34) Solche Hammerwürfe sind nicht selten in der deutschen Rechtsgeschichte. Tatsächlich stimmen auch die Grenzangaben des 16. Jh. mit der alten Hofmark überein, die sich bis in das jenseitige Padastertal erstreckt hat. 35)

34) Die Grenzangabe im Verfachbuch Steinach von 1589, fol. 99 und fol. 181 würde darauf hinweisen, daß sich der Besitz des Hofes tatsächlich über das Joch in das jenseitige,Padastertal erstreckte. (Innsbruck, Staatsarchiv: Streit mit Steinach.)
35) Vgl. Hermann Wopfner, Die Besiedlung unserer Hochgebirgstäler, Zeitschrift des D. u. Oe. A. V., Jg. 1920, S. 19.

Als Belohnung für seine Heldentaten ist der Hoggeneiner Riese mit seinen beiden Söhnen zu Rittern geschlagen worden und alle drei traten in kaiserlichen Dienst. Eine Tochter soll den Hof geerbt haben. So erzählte der alte Cajetan Gratl. Franz Gratl aber, der beste Kenner seines Heimathofes (gest. 1912), wusste zu künden, dass der Riese im Krieg gefallen sei, von einem Pfeil rücklings getroffen, nachdem er selbst 30 Männer im Handgemenge erschlagen hatte.

Nach Annahme von Gratl könnte dies leicht im bayrischen Krieg 1368 geschehen sein, als die Bayern ins Wipptal vorgerückt waren und Schloss Matrei erobert hatten. Demgegenüber aber steht noch eine beharrlich von vielen Seiten erzählte Auffassung, dass der Hoggeneiner Riese Zotler geheißen habe. Tatsächlich ist nun nachweisbar, daß ein Christian Zotler vom alten Zotlerhof in Vals den Hof 1582 erworben und 1589 wieder verkauft hat. 36) Es ist kaum anzunehmen, daß der Christian Zotler mit dem Riesen identisch wäre, vielmehr lebt die Erinnerung an ihn deswegen weiter, weil die Gratl 1589 von ihm den Hof erworben haben. Die Sage selbst führt vielmehr, wie Franz Gratl mit Recht vermutet, vielleicht in das 14. Jh. Aus der Geschichte des Wipptales wissen wir, daß die Ritter von Aufenstein um das Jahr 1300 eine bedeutende Rolle gespielt haben. Ritter Heinrich II. und Konrad II. von Aufenstein waren mit ihren Wipptaler Knechten bekannt und gefürchtet. Auf dem Marchfeld, am Hasenbühel, in Kärnten und Böhmen und Oberitalien schlugen sie sich herum. In der berühmten Kärntner Reimchronik des 13. Jh. werden die Aufensteiner rühmend hervorgehoben. Im gleichen Zusammenhang wird sogar ein Tiroler genannt namens Hakche, der große Heldentaten verrichtete. 37)

36) Verfachbuch Steinach 1589.
37) In der Reimchronik von Ottokar wird ein Tiroler Knecht aus der Truppe des Ritters Konrad von Aufenstein, der vom Stammschloß Aufenstein bei Navis im Wipptal stammte, erwähnt. Dieser Knecht verrichtete eine große Heldentat und scheint wohl von ausnehmender Stärke gewesen zu sein:
„Ain Knecht in seinem Torn
(Waz von der Etsch geporn,
der hiez der Hakcher),
Rant an den Weißenekcher,
Vnd prach jm den Helm ab,
Mit dem Swert er jm gab
Durch die Pekchelhauben ain Slag;
Daz er danieder gelag
Und daz das heiz Plut
Durch die Pekchelhauben wuet!“
(Ausgabe: Scriptores Rerum Austriacarum, tomus III, S. 539)
Es heißt zwar, der Knecht stammte vom Etschtal; aber das wird für den Chronist wohl ein weiter Begriff gewesen sein. Fast erinnert der Name „Hakcher“ an die erste Erwähnung des Namens „Hahkenin“ (Hochgenein) im Jahre 1324.

Das Geschlecht des Riesen ist untergegangen und verschwunden. Aber seine Taten werden nie vergessen. Durch alle Jahrhunderte hindurch sind sie getreulich im Volk erzählt und übertragen worden, besonders von den Besitzern des Hochgeneiner Stammhofes, der Gratl, die den Hof seit 1589 bis 1920 in ununterbrochener Reihenfolge besessen haben, eine kernige Wipptaler Bauernsippe. Einer der letzten Stammträger, Gottlieb Gratl von Hochgenein, ist am 3. Juli 1916 an der Südfront in Südtirol im blühendsten Alter von einer Lawine verschüttet worden! 38)

38) Gratl ausgestorben. Heute Auer von Schmirn.

Als zweite ruhmvolle Heldensage des Wipptales lebt die Erzählung vom Riesen aus dem Valsertale, Gallus Gogl, noch heute beim Volk als „Gogl Galle“ weiter. Die Sippe der Gogl, ein kerniges Wipptaler Geschlecht, stammte ursprünglich aus dem Gschnitztal, wo sie schon um 1500 mehrfach erwähnt wird. Gogl Galle, geboren ungefähr 1591 im Valsertal auf dem Alberhof 39), als siebentes von acht Kindern des Thoman Gogl, wuchs auf dem hohen Berghof zu einem richtigen Kraftmenschen heran, dessen Größe und Bärenstärke bald im ganzen Land bekannt und berühmt wurde. Er war ein Bergbauer wie alle anderen. Der alte, 89-jährige Lutzer-Bauer in Vals erzählt noch heute viele Kraftstücke dieses „Riesen“. Bedenkt man, dass der Großvater dieses genannten Lutzer-Bauern 99 Jahre alt geworden ist und dass der Enkel den Großvater noch persönlich gekannt hat, dann kann man dieser Volkstradition schon Glauben schenken. Der Großvater Jakob Saxer, genannt Lutzer, ist ungefähr 1870 gestorben und muss daher gegen 1770 geboren sein. Bei seiner kühnen Teilnahme im Krieg 1809 stand er im besten Alter. Die Erzählungen über den Gogl-Galle müssen daher zu seiner Zeit noch sehr frisch und lebendig in Erinnerung gewesen sein (vielleicht im gleichen Verhältnis wie heute die Zeit von 1809!). Folgendes weiß der alte Lutzer vom Valser Riesen Gogl Galle:

39) Alberhof in Vals, s. Wipptaler Höfewerk.

Jenseits des Tales, beim Zotlerhof, stand ein Dengelstein, den vier starke Männer nicht tragen konnten. Der Gogl Galle trug ihn allein über den Bach herüber zum Alber-Hof. Dort soll er erst vor wenigen Jahrzehnten bei einem Bau zerschlagen worden sein.

Einmal war ein „Sagebaum“ im Winter tief eingefroren, so dass man ihn hätte heraushacken müssen. Aber der Gogl Galle hat die Axt mit aller Wucht in den Stamm geschlagen und dann hob er den schweren eingefrorenen Baum mit einem Ruck in die Höhe. Die Axt - aber steckte so tief drinnen, dass sie die Bauern nicht mehr herausbringen konnten. Ein andermal haben die Bauern Holz geführt. Aber der Weg war steil und schlecht. Die Ochsen zogen nicht mehr weiter. Der Gallus Gogl kommt daher und sieht, dass die Fuhre nimmer weiter geht. „Geah, tuet mir die Öchsler wök“, sagt er ohne Zögern. Dann zog er die ganze schwere Fuhre allein über die steile Stelle.

Der heute 90-jährige Josef Gatt weiß über den Riesen vom Valsertal noch folgendes zu erzählen: Gogl Galle hat nicht gerne gearbeitet, wenn es sich um gewöhnliche Arbeit handelte. Er wollte nur anpacken, wenn es sich darum handelte, seine Kraft zu zeigen. Sonst konnte er auch störrisch sein und das Gegenteil tun. So sind einmal die jungen Valserburschen im Winter Heuziehen gegangen. Absichtlich oder unabsichtlich ist es nun aufgetroffen, dass der Gogl Galle das kleinste „Reißl“ (Ladung) hätte hinunterschaffen sollen. Spöttisch nennen die Burschen das letzte Aufputzheu die sogenannte „Sau“. Als die anderen schon längst mit ihren Heuschlitten über die steile Riese hinuntergesaust waren, kam endlich der Gogl Galle daher, aber ohne Schlitten. „Wo hast du denn die Sau gelassen?“ spotteten die Burschen. Er aber gab lässig zur Antwort: „Sie ist mir neben ausgeschossen und ich hab sie nimmer derhebt!“ Da mussten die Burschen noch einmal zurück, um den kleinen Schlitten zu holen.
Beim Heimweg übers Tal hinaus aber zeigte der Riese wieder seine Kraft. Als die Ochsen an einer Stelle die Schlitten nicht mehr ziehen konnten, hat er die Last allein geschoben.

In den Sommertagen befanden sich Knecht und Dirn und alle Leute droben auf dem Bergmahd. Gogl Galle ging am Abend immer ins Tal zum Hof, weil die Zeiten so unsicher waren und sich so viel fremdes Volk herumtrieb. In der Nacht sind tatsächlich Einbrecher gekommen und haben das „Giggerle“ neben der Tür ausgehoben. Einer streckte den Arm herein und wollte die Tür von innen aufmachen. Da hat der Gogl den Einbrecher beim Arm genommen und die ganze Nacht nicht mehr losgelassen, sodass er nicht mehr weggekommen ist. Die anderen Einbrecher haben ihrem Kumpanen den Kopf abgeschnitten, damit ihn am Morgen niemand erkennen solle. In einer der folgenden Nächte sind sie wiedergekommen, aber da ist der Goggl Galle bei einem geheimen Gang hinausgeschlüpft und hat sich draußen versteckt. Die Einbrecher haben gesagt: „Wenn wir ihn fänden, würden wir an jeder Tür ein Viertel von ihm aufhängen.“ Aber sie haben ihn nicht bekommen! (Gatt Josef.)

Der Valser Riese war dreimal verheiratet. Bei seinem Tode wurde der große Hof geteilt.
Am bekanntesten ist nun die sagenhafte Erzählung von den 200 Wipptaler Landsknechten, die um 1625 in den Schweizer Krieg zogen. Ihr berühmter Fähnrich war Gallus Gogl! Große Heldentaten hat der riesenhaft starke Mann in diesem Krieg verrichtet. Gegen sieben Jahre blieben die zweihundert Wipptaler Landsknechte in fernen Landen und nur sieben durften ihre Heimat wiedersehen. Lassen wir den alten Lutzer erzählen, welche Heldentaten Gogl Galle im Schweizer Land verrichtet hat:

Eine Riesin stand bei Finstermünz den Tirolern gegenüber, die „ganze Arme voll Soldaten genommen und weggeworfen“ hat. Da kommt aber der Valser Riese daher und schreit ungestüm auf:
„Wart — lasst mir den Tuifl! Hab’n tue ich ihn enk schuni“ Damit meinte er, er werde im Handgemenge zupacken und dann sollten ihm die anderen zu Hilfe kommen. Er aber hat sie genommen und in weitem Bogen über die Brücke in den Inn geworfen. Darauf hob er die schwere eiserne Tür aus den Angeln und warf sie der Riesin nach in den reißenden Fluss. Da hatten die Tiroler gewonnenes Spiel. „Sieben gloggspeiserne Häfen“ hat der Riese zur Erinnerung von der Schweiz mitgenommen, die bis vor wenigen Jahrzehnten noch auf dem Alberhof waren.

Unvergesslich bleibt dieser denkwürdige Kriegszug der 200 Wipptaler Landsknechte. Bis zum Jahre 1853 (Brand von Steinach) war das Bild von der Heimkehr dieser Landsknechte auf dem Gasthof „Rose“ in Steinach angebracht und wurde 1930 in sehr gelungener Darstellung genau nach dem alten Abbild erneuert. Folgendes steht dabei geschrieben:
Erinnerung an die Heimkehr der sieben Krieger im Jahre 1631 aus der Schweiz, welche von 200 ins Feld ausgerückten Mannen aus dem Gerichte Steinach nach sechsjähriger Abwesenheit zur Zeit des dreißigjährigen Krieges noch übrig geblieben waren, darunter der tapfere Fähnrich
Gallus Gogl
aus dem Valsertale, welcher bei Martinsbruck zur Befreiung dieses viel beigetragen hat, eine Riesin überwand und in den Inn warf, das Eiserne Tor des Thurmes an der Brücke aushob und der Riesin nach ins Wasser warf.
Das Mädchen nahm einer der Krieger mit sich aus dem Schweizerland, weil er irriger Weise erfuhr, dass während seiner Abwesenheit sein Weib gestorben sei. Aber — welch ein ungünstiges Geschick, als das gestorben gemeinte Weib noch lebte und das Mädchen wieder zurück musste in das Schweizerland!“

Das ist die Geschichte vom Riesen Gallus Gogl aus dem Valsertal, der in der Erzählung des Volkes zu einem wahren Helden geworden ist und geschichtlich nachweisbar ist. Aber — wie traurig gestaltete sich das Los des Bauern von Malsein (bei Mauern), der im Schweizerland eine Schweizerin geheiratet hatte, da er die Kunde vernahm, seine eigene Frau wäre gestorben. Als ein Nebenstück des berühmten Tennyson’schen Gedichtes „Enoch Arden“ mutet uns die Erzählung an, wie dann die Schweizerin traurig wieder heimkehren musste:

 „Denn als er wieder heimwärts kehrt,
Da hört er seltsame Kunde:
Die Frau — sie lebt — ganz unversehrt!
Sie wartet Stund für Stunde!

Da begann die liebe Schweizerin                                                   ,
gar bitterlich zu weinen:
Ade, ade, mein Glück ist hin!
Mueß fort nach Engedeinen !

So zog sie wieder heim allein
Gar traurig und verlassen.
Der Bauer aber von Malsein
könnt kaum die Tränen lassen!“ 40)

40) Sage erzählt in: Tiroler Heimatblätter 1930, S. 215: Der Riese Gallus Gogl aus dem Valsertal, von K. Egg; vgl. mein Wipptaler Landsknechtspiel, Tiroler Heimatblätter, 1956, S. 265.

Während bei der sagenhaften Erzählung von den Taten des Hoggeneiner Riesen ein geschichtlicher Kern direkt nicht nachgewiesen werden kann, steht die allerdings von manchen Sagen umrankte Gestalt des Gogl Galle, des Riesen aus dem Valsertal, außer jedem geschichtlichen Zweifel! Er war ein Bergbauer aus dem Valsertal wie alle anderen Landsknechte, die zur damaligen Zeit in den Krieg gezogen sind; so versteht man seine Sehnsucht nach dem väterlichen Berghof:
„Möcht schwingen wieder meine Axt,
Möcht sehen, wie der Haber wachst!”

Den Riesen im Wipptal steht der Umesberger Riese des benachbarten Stubaitales gegenüber, dessen trauriges Geschick heute noch viel im Volk erzählt wird. Zum Bau der Kirche von Neustift soll er allein die ganzen Steinblöcke zusammengetragen haben. „Er war so groß, dass er bis zum Gewölbe der Kirche reichte“, wie die Sage erzählt. Aber einen Fehler hatte der arme Riese: immer plagte ihn ein schier bodenloser Hunger und er konnte „einfach nit d'erköstiget werden“. Einmal sollte er bei einem Bauern dreschen. Da nahm er sich eine Baumlatte und befestigte einen schweren Hackstock daran. Zuerst „aß er sein Fürmeß“, so viel als zehn Leute nicht essen konnten; dann wollte er dreschen. Aber er hätte alles kurz und klein geschlagen, so dass ihn der Bauer gerne wieder gehen ließ.

Auch Alpenburg erwähnt den Riesen aus dem Stubaital, kurzweg der Starke genannt, der wohl dem Umesberger Riesen entspricht: „Auf seinen Schultern trug er neun Zentner Eisenwaren nach Schafhausen zu Markte, allwo man so darob staunte, dass man ihm gestattete, lebenslang seine Ware zollfrei einzuführen und sein Bildnis auf eine Wand malen ließ!“ 41)
41) Alpenburg, Mythen und Sagen, S. 16.

Überaus tragisch war das Ende des Riesen. Zeitlebens konnte er nicht genug essen. Immer von Hunger geplagt, stahl er in seinen Nöten Vieh oder anderes Zeug. Einmal holte er sich einen Stier von der Alm, den er dann auf seinen Schultern heimlich ins Tal trug. Dabei musste er über eine Felswand klettern, was ihm trotz der schweren Last ohne sichtliche Mühe gelang. Vielleicht, dass er bei dieser Gelegenheit oder sonst wie ertappt wurde. Der arme, hungergeplagte Riese wurde zum Tode verurteilt und starb eines unrühmlichen Endes. Nach einer traditionellen Erzählung des Künstlers Anton Strickner von Steinach soll der Riese gerade damals zur Richtstätte in Innsbruck geführt worden sein, als der Maler Damian Asam die Pfarrkirche von Innsbruck ausmalte. Der Künstler beschaute sich dies seltsame Bild, den armen, jammernden Riesen, der nur wegen seines unstillbaren Hungers zum Tode verurteilt wurde. Dieses Bild hat den Künstler so sehr beeindruckt, dass er den jammernden Riesen auf die Kuppel malte, wie er mit den von Ketten gefesselten Händen klagend beim heiligen Jakob um Fürsprache bat.

Umesberger Riese, Dom Innsbruck

Der Wilde Mann, Waldmensch, in Ketten gelegt und in höfischer Umgebung
von Cosmas Damian Asam 1722-1724
Detail, zweite Flachkuppel, Dom St. Jakob Innsbruck
© Berit Mrugalska, 2. Juli 2004

Ja, selbst bis zur heutigen Zeit herauf sind aus dem kernigen Geschlecht der Wipptaler Bergbauern solche vom Volk als „riesenhaft stark“ bezeichnete Gestalten erwachsen.

Weit bekannt waren zum Beispiel die Heldentaten des Blasiger Jörgs und Blasiger Tunige (Georg und Anton Jenewein!) von Obernberg im Jahre 1809, beides verwegene Wilderer, denen der Tod schier nichts anhaben konnte. Blasiger Jörge war „gefroren“, wie das Volk erzählt. Er konnte mit dem Schädel an die Wand springen oder an einen Felsen rennen; er spürte es nicht. Mit einem großen „Bengel“ bewaffnet, zogen die beiden Brüder 1809 gegen den Feind. Bei der Blättermühle in Gossensaß sprang der Jörg auf einen Haufen feindlicher Reiter, von denen er drei vom Pferde schlug. Dann haben sie ihn gefangen genommen. Aber im Laufe des Weges erwischte er „ein Stäudl“ am Weg und schwang sich von dort auf den Baum und dann über eine Felswand hinauf und entkam wieder glücklich den Feinden. Er war „gefroren”, so dass ihm der Feind nichts antun konnte. Aber einmal hat ihm ein Offizier mit einem goldenen Säbel fast den Schädel gespalten. Eine gewöhnliche Waffe konnte ihm jedoch nichts anhaben. (Fürst.)

Beide Brüder besaßen eine außergewöhnliche Stärke! Der eine ist über 80 Jahre alt geworden. Kein Wunder, dass dann das Volk glaubte, sie würden mit dem Teufel im Bunde stehen; denn diese Kraft und Kühnheit konnte man nicht mit gewöhnlichen Dingen erklären!

Fällt in dieses Gebiet, wo schon von richtigen Kraftstücken die Rede ist, nicht auch jene Schildbürgertat der Bauern aus dem Schmirntal, die sich nur auf ihre Stierkraft verließen und deshalb glaubten, sie könnten sogar die Kirche versetzen? Lassen wir den Wipptaler Heimatforscher Alois Egger erzählen:

Wer kennt nicht die berühmten Schmürner Sekten? . . .
Da wollten einmal die Schmürner ihre Kirche weiter vom Bach wegrücken, weil der Bach geradezu erschreckend wild und feindlich tat und nicht bloß feste Bauernhäuser und die besten Wiesen mitriss, sondern sogar das Gotteshaus gefährdete. Dem zur Hilfe fanden sich bald die stärksten Männer des Tales ein und wollten kurz entschlossen mit der Stierkraft ihrer Leiber in etlichen kräftigen Rucken die Kirche feldeinwärts schieben. Der Kirchpropst war Befehlshaber. Er zog seinen schweren, grobgenähten, mit Samtaufschlägen und Hirschbeinknöpfen versehenen „Tuxer“ (Rock) aus und legte ihn feierlich an die Stelle, bis zu welcher die Kirche verschoben werden sollte. Dann entledigten sich auch alle anderen ihrer Joppen, hängten sie an die Erlen und stemmten ihren Stiernacken an die Kirchenwand, bis das erste „Ho-ruck“ erscholl. Die Mauer zitterte, der Boden zitterte, wie da alle Schmirner richtig antauchten. Mit bogenstraffen Sehnen setzten sie das zweite- und dritte Mal an; und der Kirchenpropst, dem die Schweißtropfen wie beim „Burentragen“ von der Nase troffen, glaubte schon fest, die Kirche müsse sich schon um mindestens drei Schuech feldeinwärts bewegt haben. Froh lächelnd ging er also von Mann zu Mann und klopfte jedem aneifernd auf die Schultern und ließ die Leute tüchtig ausschnaufen.
Derweil aber schlich sich irgendein böswilliger Nachbar vorüber und sah den schönen Tuxer mit den Sammetaufschlägen und den ausnehmend schönen Hirschbeinknöpfen. Ohne lang zu fragen, nahm er ihn einfach mit.

Der Kirchpropst schwitzte und befahl weiter zu schieben und die Schmirner schoben, was sie schieben konnten, dass das Gemäuer wie Raben ächzte und krächzte. „Ho-ruck! Und noch ein Schuech! Hoo-ruck! Ein zweiter Schuech! Hoo-ruck —! Itzt ists genue!“

Und neugierig, wie weit die Kirche schon gewandert sei, ging er ausluegen. Und sieh da! Der grobgenahte Tuxer war nicht mehr da! Also . . .? Da sprang er zurück über Kraut und Rüben zu den anderen Lötern und verkündete mit stolzer Zufriedenheit:

„Schmirna! Jetz kun der Hergot mehr ruhig sein! Und uns trö’t’s an tüchtign Trunk! Denn mir sein übern Tuxer schun weit awaus - - -!“

Spiegelt sich aus dieser Schildbürger-Erzählung nicht der Stolz auf die urwüchsige Stierkraft dieser Bergbauern, die selbst ihre Kirche versetzen wollten . . .? Fehlte nur noch der Versuch, auch den Olper er weiter zu verrücken!

In der neueren Zeit hat besonders die Riesengestalt des „Toggessen-Kasse“ von Gschnitz viel von sich reden gemacht.

Der Toggessen Kasse war stark wie ein „Viech“, hat der alte Stiner Karl von Trins erzählt. Doch scheute er jede Arbeit und brachte sich als armer Besenbinder durchs Leben. Die Kleider musste er sich von Bauern zusammenbetteln. Aber alle waren ihm viel zu klein, so dass er ausschaute wie ein schnell aufgewachsener Bursch, der aber noch seinen Bubenrock trägt. Im ganzen Tal erwarb er sich einen gefürchteten Ruf als unbesiegbarer Robler. Er nahm es im Streit mit fünf Burschen leicht auf. Im Zorne zerbiss er die Weingläser wie Brotrinden und schluckte die Scherben hinunter. Einmal baten ihn Holzknechte, er möge ihnen helfen, einen eingefrorenen Baum aufzuheben. Da hackte er die Axt tief in den Baumstamm, hob den Stamm auf und warf ihn mit solcher Wucht auf den Schlitten, dass derselbe zerbrach. Der Toggessen Kasse nahm ein trauriges Ende und starb als armer Gemeindebettler in einem Stall.

Noch bekannter aber war der schier sagenhafte Schmirner Robler, genannt Josiler Anders aus der Familie Riedl. Seine Bärenkraft ging über die gewöhnlichen Vorstellungen. Er ist um 1830 geboren. Seine Größe betrug etwa zwei Meter, dazu war er außerordentlich stark und breit gebaut. Sein Brustumfang wird von Zeitgenossen mit 1.20 Meter angegeben.

Sein Leben verlief ähnlich wie das des Gschnitzer Roblers mit Sauferei und Rauferei. Der schweren Arbeit und einem geregelten gleichmäßigen Leben wich er aus. Wenn es ging, verdingte er sich von Hof zu Hof, später brachte er sich sogar als Besenbinder so schlecht und recht durchs Leben, bis er endlich auf der Gemeinde landete. Mehr als hundertmal wurde er beim Gericht Steinach wegen Bettelei und Rauferei angezeigt und eingesteckt. Wenn er wieder einmal dort landete, dann meinte er gutmütig zum Landrichter: „Voter — itz kimm i holt mehr!“ Und als endlich nichts mehr half, wurde er in ein Arbeitslager nach Laibach gesteckt, wo ihm Heimweh und Not arg zugesetzt haben. Seine Gemeinde schrieb ihm ein Leumundszeugnis, wo es hieß: „Er ist ein befürchteter Mensch!“ Er wusste sich jedoch gut zu verteidigen und sagte: „Ein befürchteter Mensch . . .? Ich habe mich auch oft vor einem großen Hund gefürchtet, aber nichts getan hat er mir!“ Als er endlich wieder in die Heimat zurückkehren konnte, hat er beim Eingang in das Tal Schmirn gejuchzt und allen Leuten freundlich zugeredet: „Itzen kimmt das unschuldige Knäblein von Rohrach!“ (In Rohrach war er daheim!)
Der Schmirner Robler endete im Spital von Matrei, wo er um 1910 im Alter von über 80 Jahren gestorben ist.

Folgende Kraftstücke werden von ihm erzählt:

Als junger Knecht war der Schmirner Robler bei einem Bauern in Trins bedienstet. Einmal konnten junge Ochsen ein Heufuder nicht mehr ziehen. Ein Bauer meinte: „Geh Ander, schuib mir a bißl!“ Darauf hat er stolz gesagt: „Tue weg die Kölber!“ Dann hat er das Fuder allein gezogen.

Im Alter von 18 oder 19 Jahren hütete er auf der gefährlichen Seiten-Alm in Obern. Einmal verliefen sich einige Ochsen im Steilhang oberhalb der Kluppe und kamen in höchst gefährliche Lage. Nun galt es als größte Schande für den Hirten, wenn ihm ein Stück Vieh auf der Alm verunglückte. Dieser Gedanke drängte sich dem einsamen Hirten auf, der nun alles aufs Spiel setzte. „Itz isch alles gleich“, hat er geflucht, dann sprang er in Riesensätzen zum nahen Abgrund und suchte die Ochsen langsam durch Zurufen von unten her aufzuhalten. Dabei kam ein Jungochs ins Rutschen und zwar gerade etwas über dem Standpunkt des Hirten. Mit aller Kraft stemmte der Hirt die genagelten Schuhe in den Grasboden und es gelang ihm tatsächlich, das fallende Tier aufzuhalten. In späteren Jahren erzählte er, dass er zeitlebens niemals ein größeres Kraftstück so ganz ohne Aufsehen geleistet habe. Beim Denggenbauern in Schmirn, wo seine Schwester verheiratet war, hielt er sich oft als Gast auf. Einmal durchsuchten Zigeuner das Haus, während die Leute auf den Feldern arbeiteten. Nur zwei kleine Buben befanden sich beim Schmirner Robler in der oberen Bastelkammer. Da trat der damals schon 80-jährige Robler mit einem Schnitzmesser in der Faust in den Gang heraus, seine vom Alter schon etwas gebückte Gestalt reckte sich wieder zu voller Größe. Da hätte man sehen sollen, wie die Zigeuner voller Angst bei diesem Anblick Reißaus nahmen!

Beim Penzenwirt in Stafflach saßen etliche Bauern beisammen und redeten von Kraftproben aller Art. Jemand wollte sich erbötig machen, drei Säcke Korn zu tragen und damit einige Male im Tennen herumzugehen. Ein Wort ergab das andere. Sie lachten und spotteten über den Schmirner Robler und meinten, „gar so weit wärs nit her mit seiner Kraft“. „Guet, wollen sechen“, lachte er grimmig und kurz. Dann ging man in den Tennen hinaus, wo er sich zwei Säcke auf die Schultern lud, einen links, den andern rechts. Mit rauer Stimme herrschte er sie dann an: „Noch einen! Und dann wieder einen, dass es nit einseitig wär“, so hatte er bereits vier Säcke auf den Schultern, zwei zur Seite und je einen vorne und rückwärts, aber er stand noch pfeilgerade wie ein stämmiger Ochs unterm Joch. Noch einen fünften ließ er sich aufladen und damit es nit einseitig wär, sogar noch einen sechsten Sack. Dann probierte er und wollte herumgehen, aber dabei meinte er mit heiserer Stimme, „einer tät schon noch gehen, so in der Mitte“. So hatte er alles mit einander sieben Säcke geladen, die durchschnittlich je 50 kg gewogen haben. Aber trotz dieser Riesenlast hielt er sich stämmig aufrecht, ging noch einige Male im Tennen rund herum, ja er soll sogar das Knie gebeugt und sich wieder aufgerichtet haben. Da erst verstanden die Schmirner die Riesenkraft, die in ihrem Landsmann schlummerte.

Sein berühmtestes Kraftstück aber kann fast mit der Heidentat seines Landsmannes, des Hoggeneiner Riesen, verglichen werden: In Innsbruck zeigte sich stolz der stärkste Mann der Welt in einem Zirkus. Er forderte alle Leute zum Raufen heraus. Talaus, talein verbreitete sich diese Kunde und verirrte sich auch in das einsame Schmirntal.
„Du, Ander, dös war eppes für di“, sagten und stichelten seine Landsleute. „Dem muesch i’s zoagen“. Der Stolz und die Neugier dieses einfachen Bauern wurde dadurch gereizt, zumal sich eine ganze Reihe der reichen Schmirner Bauern erbötig machten, ihn nach Innsbruck zu geleiten und ihn auch zu verköstigen. Das ließ sich der Ander nicht zweimal sagen. Als aber endlich am Abend die Vorstellung im Zirkus begann und als der stärkste Mann der Welt die Hufeisen bog, Eisenstangen brach und sonst allerhand Kraftstücke ausführte, da riss der einfache Schmirner Robler Mund und Augen auf. Alle Lust wär ihm vergangen, wenn nicht seine Landsleute seinen Bauernstolz gereizt und ihn auch mit scharfem Branntwein versorgt hätten. Denn damit konnte man den Ander wohl hochbringen. Und richtig — als der stärkste Mann der Welt zum Raufen forderte, stichelten und reizten die Schmirner den Robler gar grimmig auf: „Ander — du Schuft! Du Feigling! Du Henniler! Du Pötzer! Dem wersch es nit sein? Sell hat mr di schun für an andern ung’schaugt!“ Da schrie der Schmirner Robler im einfachen Lodentuxer grimmig auf: „I mecht schmeißen!" Das hat nun einen Aufruhr gegeben im ganzen Zirkus, wie er nun wie ein Bär mit seinen grobgenagelten Schuhen und dem lodenen Gewand auf die Tribüne gesprungen ist. Wie einst der Hoggeneiner Riese hat er den stärksten Mann der Welt an der Brust gefasst und mit seiner Bärenkraft an die Brust gepresst, dass ihm die Luft ausgegangen ist.
Aber leider war diesem Kraftmensch kein richtiges Betätigungsfeld geboten. Als Besenflicker musste er sich durchs Leben schlagen. Sterbenskrank lag er dann in einem Stall. Aber als ihm damals ein bekannter Raufer, der Yssler, zum Raufen gefordert hat, da hat sich seine urwüchsige Kraft zum letzten Mal entladen. Fast hätte er seinen Widersacher getötet. Und schon wenige Tage darauf starb er im Spital von Matrei . . .

Auch eine Riesengestalt aus dem Mareiter Tal bei Sterzing hat in der Zeit um 1900 viel von sich reden gemacht, genannt „Ridnauner Moidele“. Dieses Mareiter Moidile stammte von kleinen Eltern auf dem Hof „Gestände“, dem höchsten Hof in Ridnaun. Vor etwa 80 Jahren geboren, war sie zuerst wie andere Kinder aufgewachsen, aber im Alter von acht Jahren hatte sie schon die Größe eines erwachsenen Mannes erreicht. Mit zwölf Jahren musste sie sich bei jeder Tür bücken und konnte in den Bauernstuben niemals aufrecht stehen. Mit der körperlichen Größe war auch ihre Stärke ins Riesenhafte gewachsen, aber dadurch vereinsamte sie von den Menschen und fühlte sich verlassen und seltsam und arm. Sie schämte sich ob ihres Aussehens und fürchtete sich sogar, zumal ihr Gesicht eher hässlich und entstellt ausschaute. Es muss eine Tragik genannt werden, dass diese Riesin nicht als Mann zur Welt gekommen ist. Denn dann hätte sich die schlummernde Riesenkraft voll entfaltet — zu einem Mann von außergewöhnlicher Kraft, zu einem „Riesen“, wie das Volk sagt. So aber musste das arme Geschöpf vereinsamt und abgeschlossen leben, obwohl sie von einem Zirkus aufgefordert wurde, sich gegen hohe Belohnung zur Schau zu stellen; aber der Vater sagte nicht zu. Nur einmal ist sie nach München gekommen. Schon in jungen Jahren ist das von aller Welt bestaunte Ridnauner Moidile ins Grab gesunken und ihr schmuckloses Grabkreuz ist heute noch im Bergfriedhof von Ridnaun zu sehen. 42)

42) Erzählung meines Onkels Karl Frick, der mit der Riesin in Mareit bei Sterzing ein Jahr lang in die Schule gegangen ist. Das Gedenken ist in der Sterzinger Gegend heute noch sehr lebendig. Die Riesin hatte eine Länge von 2.20 Meter. Sie war auf dem Ridnaun „Staudenhof" beheimatet, wo ihr Bruder heute noch Bauer ist. Auch ihr Großvater soll riesenhaft groß gewesen sein.

In Ridnaun lebt auch die sagenhafte Riesengestalt des Stranses-Riesen weiter, vom hochgelegenen Stranses-Hof. Hof und Sage erinnern in vieler Hinsicht an den Hof zu Hochgenein.

Die letzteren Beispiele zeigen ganz anschaulich die Möglichkeit, dass von Zeit zu Zeit, unter gewissen geheimnisvollen Umständen, solche Riesengeschöpfe entstehen können. Diese Beispiele beweisen aber auch, dass die Sagen von Riesen und von Kraftmenschen niemals aus der Luft gegriffen sind, sondern dass ihnen ein wahrer Kern zugrunde liegt. Bedenkt man noch die einfache, natürlichste Lebensweise der Bergbauern in alter Zeit, sowie die unverdorbene und naturechte Ernährung, dann erklärt sich noch leichter die Möglichkeit der Entwicklung solcher Kraftmenschen. So haben die alten Pfitscher zum „Fürmeß“ gesottenen Roggen mit Löffeln gegessen. Das machte sie stark wie ein Ochs. Auch bei der schweren Arbeit des Heuziehens sollen die Leute früher häufig Roggen gegessen haben. Damit aber die schönen Pfitscherinnen, deren Schönheit im Wipptal bekannt und gerühmt ist, auch nicht zu kurz kommen, haben sich dieselben mit Milch abgewaschen. Überhaupt war früher die Arbeit der Jugendlichen bis zum 18. Jahre stark eingeschränkt. Da konnten sie sich richtig auswachsen und stark werden. Die jungen Burschen verrichteten keine schweren Arbeiten.

Gerade die sagenhaften Erzählungen über Riesen lassen einen tiefen Schluss auf Denken und Anschauung unserer Vorfahren zu. Unverkennbar leben noch Zusammenhänge mit ältesten mythologischen Sagengestalten weiter, um nur an die erwähnten Thyrschenköpfe und an die Tarntalerköpfe zu erinnern. Noch auffallender sind die ebenfalls in den nordischen Riesensagen häufigen Erzählungen von Abdrücken der Schuhe von Riesen, die wir auch im Wipptal in mehreren Fällen kennengelernt haben. Endlich aber spricht aus den Riesensagen die Freude des Volkes an solchen Geschichten und Erinnerungen, die für immer die Bewunderung der Nachkommen erweckt haben. Daher haben sich auch im Wipptal wirkliche Heldensagen entwickelt.

Quelle: Wipptaler Heimatsagen, gesammelt und herausgegeben von Hermann Holzmann, Wien 1948, S. 45 - 73.