Die Perchta

Bei vielen Sagen lässt sich eine mehr oder weniger deutliche Vermischung heidnischer mit späteren christlichen Anschauungen erkennen. In ganz besonderer Weise trifft diese Tatsache bei der in allen Alpenländern in ähnlichem Kleide gezeichneten Gestalt der Perhta zu. Eine Reihe von Eigenschaften werden dieser hehren Gestalt in Sagen und Märchen zugeschrieben. Die ursprüngliche heidnische Vorstellung wurde vom christlichen Glauben übernommen und mit christlichem Kleide angetan. Man stellte sich die Frau Perhta vor: „Als kleines altes Weiblein mit glänzenden Augen und auffallend großer Nase, ihre Haare ungekämmt und ihre Kleider zerrissen.“ 54)

54) Vgl. Dr. Viktor Waschnitius, Perht, Holda und verwandte Gestalten, in Sitzgs.-Ber. der Kais. Ak. d. Wiss. in Wien, 1913. A. Dörrer behandelt das Perchtenspringen in seinem Buche über die Tiroler Fasnachtsbräuche.

Der Glaube an die Perhta war über das Wipptal, Pustertal und Eisacktal verbreitet sowie in den Nebentälern des Inn mit Ausnahme des Ötztales. Wie in Steiermark erscheint sie als „Führerin der ungetauft verstorbenen Kinder“. Waschnitius erwähnt in seiner eingehenden grundlegenden Abhandlung über die Perhta-Sage die Vorstellung, wonach die Perhta vom Volk als Frau des Pilatus angesehen wurde. Der Forscher beruft sich dabei auf Alpenburg, der jedoch den Fundort dieser Sage nicht angegeben habe. Diese Anschauung trifft jedoch für das Wipptal tatsächlich zu, wo die Frau Perhta als Gattin des Pilatus angesehen wird.

Aufs innigste mit dem Perhtenglauben verbunden oder sogar ein Teil dieses Glaubens war der sogenannte Perhtenlauf in vielen Gegenden Tirols, besonders in Osttirol und in Kitzbühel. Diesen schildert A. Dörrer ausführlich in seiner „Fasnacht in Tirol“. Von einem Perhtenlauf und von Perhtenumzügen weiß das Volk im Wipptal nichts zu erzählen und es besteht auch keine Erinnerung daran, dass es in alten Zeiten solche Umzüge gegeben habe.

Demgegenüber ergibt die ursprüngliche Wipptaler Perhta-Sage, wie sie in der Erinnerung der alten Leute noch in der Gegenwart lebt, folgendes Bild:

Die Frau Perhta wurde als Gattin des Pilatus angesehen. In ihrem Gefolge befinden sich alle ungetauften und zu früh verstorbenen kleinen Kinder. Dass die Frau Perhta im Herbst die Kasermanndlen von der Alm führt oder an der Wilden Jagd, am sogenannten Martas-G’stampfe, teilnimmt, lässt sich nicht nachweisen. Dafür aber hat die Perhta am Kinigenabend ihren Umzug durch das Land. In ihrem Gefolge befindet sich das ganze Heer der ungetauften Kinder. An diesem Abend darf man sich daher nicht unnötigerweise außer dem Haus aufhalten. Jede Neugier wird bestraft. Einmal aber befand sich ein Fuhrmann zwischen der elften und zwölften Stunde am Weg zum Stall, um etwas nachzuschauen. Er dachte nicht an den Perhta-Abend. Gerade in dieser Stunde zog nun der Perhta-Zug vorüber. Eine Frau in wallenden Kleidern führte eine Unmenge kleiner Kinder, die sich drängten und schoben. Eines dieser Kinder konnte gar nicht nachkommen, sondern streifte immerfort die Windeln herunter und trat darauf, so dass es zu Falle kam und bitterlich weinte. Es war fast das letzte. Der Fuhrmann sah dies, erbarmte sich des Kleinen und meinte gutmütig:
„Huderle, geh her! Lass Dir die Windeln auferbinden!“
Dann wollte er ihm die Windeln richten, dass es besser laufen könnte, aber das kleine Kind sprang voller Freude auf und schrie laut:
„O, jetzt han ich auch einen Namen bekommen. Du sollst dafür Glück haben bis ins zehnte Geschlecht!“
Ohne es zu ahnen, hatte also der Fuhrmann dem kleinen Kind einen Namen gegeben: „Huderle.“ Dafür dankte es ihm in dieser Weise. Das Motiv der Namengebung ist auffallend. (Zach Nanne.)

Dieselbe Sage erwähnt auch I. V. Zingerle für das Alpbach-Tal.

Ein anderer neugieriger Knecht wollte gern einmal den Zug der Perhta belauschen. Daher versteckte er sich am Kinigenabend in einer Schupfe. Als der Zug vorüberkam, sagte die Perhta zu einem Kinde: „Geh mach die Gucker zu!“ daraufhin ist das Kind nähergekommen und der Knecht war auf einmal blind. Im folgenden Jahre wartete der Knecht wieder an derselben Stelle und diesmal rief Frau Perhta wieder: „Geh mach die Laden auf!“ Darauf wurde der Knecht wieder sehend (Zach Nanne).

Die Perhta-Gestalt gehörte einst zu den volkstümlichsten Vorstellungen der heimischen Sagenwelt. Dies steht bestimmt in Zusammenhang mit der Anschauung über das Los der ungetauften Kinder, das dem Volke immer viel zu denken gab. Perhta ist daher Seelenführerin. Im Perhtenglauben erkennen wir auch den Versuch des gläubigen Volkes, die theologisch so schwierige Frage über das Schicksal der ungetauften Kinder in menschlich-ausgleichender Form zu lösen. Wer mit dem Volke vertraut ist, der weiß, wie die Eltern noch in der Gegenwart um das Schicksal eines ungetauften Kindes bangen. Es gilt fast als eine Schande. Die Perhta-Sage bietet daher ein besonders schönes Beispiel für den hohen erzieherischen und ethischen Wert der Volkssagen.

Quelle: Wipptaler Heimatsagen, gesammelt und herausgegeben von Hermann Holzmann, Wien 1948, S. 96 - 98.