WIPPTALER HEIMATSAGEN

GESAMMELT UND HERAUSGEGEBEN
VON

HERMANN HOLZMANN
WIEN 1948
 

„Wo ferne Ereignisse untergegangen wären im
Dunkel der Zeit, da bindet sich die Sage mit
ihnen und weiß einen Teil davon zu hegen!“

Wilhelm Grimm

UNSERE VOLKSSAGEN.


Im Winter 1938/39 hatte ich ihn näher kennengelernt — den alten Cajetan Gratl von Obern in Schmirn, dessen Erzählungen nicht wie bloße Worte, sondern wie unbewusste Dichtung klangen. Ich saß in der kleinen getäfelten Bauernstube seines Berghofes und wollte mit ihm ins Gespräch kommen. Auch junge stämmige Bauernbuben hatten sich neugierig bei der Tür hereingedrängt und schauten nun bald auf mich, bald auf den alten Cajetan. Aber der alte Cajetan wollte heut nicht herausrücken. Er rauchte sein Pfeifchen, doch wurden nur gewöhnliche Worte gewechselt, wies geht und wie s’Wetter ist und Ähnliches. Als ich ihn dann bat, er soll mir noch genauer die Sage von den Wilden Fräuelein erzählen, da wurde er fast barsch — oder es spiegelte sich eine leise Betrübtheit in seinen wasserblauen Augen. Aber dann zeigte er auf die neugierigen Bauernbuben, die vor ihm standen, und dabei meinte er ernst:

„Ach — die da glauben ja doch nichts mehr! Die lachen ja nur!

Wie mit einem Schlage ahnte und verstand ich die große trauernde Einsamkeit der alten Leute in der damaligen Zeit. Bis in die Hochtäler, bis zu den einsamsten Höfen ist die moderne Zeit in den verschiedensten Formen und Arten vorgedrungen: Manchmal schmeichelnd und verschwendend in der äußeren Firnis-Kultur des Fremdenverkehrs, dann wieder grob und herrisch, stolz und überbewußt, voller Spott für alles, was gut und einfach und bäuerlich war. Das äußerlich betonte Wesen eines Schilehrers oder — was noch schlimmer war — die groben Stiefel der SA-Kultur haben oft grausig in den zarten sagenumwobenen „Rosengärtlein“ der Tiroler Hochtäler herumgestampft.

„Sie glauben nichts mehr!“

Wie eine Tragik mutete diese Klage an! Allein und unverstanden haben so viele alte Erzähler eine ganze Welt mit sich zu Grabe getragen. „Cajetan — sie glauben schon“, hab ich ihm damals gesagt, „wenn du nur wieder zu erzählen beginnst!“ Und er hat wieder erzählt. Mit offenem Mund ist das Jungvolk herumgestanden und hat zugehorcht oder hat sogar gefragt, ja manch einer hat gesagt: „Mei Nehdl hat erzählt- - -!“

Von diesem Tag an hab ich mir vorgenommen, alles, was die Alten noch an Erinnerungen und Sagen zu erzählen wissen, genau aufzuschreiben und einmal in geschlossener Form zu sammeln: Sagen aus dem Wipptal! In der letzten Stunde wollte ich diese ersterbende Welt noch erfassen und erretten. Fast mit leiser Bedrücktheit spürte ich, wie viel ich schon versäumt hatte, wie schon so viele alte Bauern und alte Weiblein in den letzten Jahren ins Grab gesunken sind. Wie oft hatte ich mit ihnen gesprochen, wie oft habe ich mir erzählen lassen — aber es war nur der Genuss für den Augenblick. Für die Zukunft habe ich es nicht festgehalten. In jedem Hochtal hat es solche Erzählerinnen gegeben, die die ganze Talchronik im Kopfe hatten. Aber umso mehr beeilte ich mich, in den damaligen Jahren langsam alle alten Personen zu besuchen und mit ihnen in „Hoangart“ zu kommen. Die meisten wurden auch fotografiert. Viele von ihnen liegen nun einsam und still im alten Bergfriedhof und ruhen aus von Arbeit und Müh. Ihnen allen, ganz besonders aber dem Cajetan Gratl, dem alten Silbergasser von Gschnitz, dem alten Salzerbauer von Trins, dem alten Lutzer in Vals, der Zach Nanne in Steinach, ihnen allen bedeute dies Buch ein stilles, schlichtes Gedenken! R. I. P.!

Dann war diese Arbeit wie ein mattes verblassendes Licht durch die Ereignisse in den Hintergrund gedrängt worden, bis dieses Licht auf einmal wieder hell durchbrach — und zwar im Gefangenenlager in Taranto: Wir Tiroler waren in ein Lager gekommen, Nordtiroler und Südtiroler! Das war ein großer schöner Tag! An einem Abend verkürzten wir uns die Zeit mit einem Vortrag über „Tiroler Volkshumor“, wobei tief in den reichen Becher der Sagen gegriffen wurde. Und nun konnte man etwas Seltsames erleben: Bei einem Gang durch die Zeltreihen zur Waschstelle hörte man die Gefangenen sprechen — von daheim! Da redeten die Passeirer über die humorvollen Totenbräuche in Pfelders. Da erzählten die Bozner in ihrer Art vom berühmten Brunnen in Kaltern oder von saftigen Sarner Bauern. Da hörte man ein befreiendes Lachen von einem anderen Zelt. Da redeten die Unterinntaler oder die Zillertaler, die Paznauner oder die vier Axamer-Buben — allen war auf einmal wie lebendig und wie ein Trost die Heimat erwacht, auf die sich alle freuten!

Es liegt doch ein großes Geheimnis in unseren Volkssagen — wir dürfen sie nicht zum alten Eisen werfen! Sie stellen für die Heimatliebe, für die Volkserziehung und auch für die Religiosität eines der wertvollsten Hilfsmittel dar.

Aber nun erhebt sich ein anderes Problem: Werden die Sagen der neuen Zeit ganz zum Opfer fallen oder nicht . . .?

Die Volkssagen wurden in der letzten Vergangenheit häufig als bäuerliches Kulturgut gewertet, das man wie einen Kasten an sich vom Land in die Stadt schaffen konnte — zur Unterhaltung oder Belehrung der Städter oder nur aus Seltenheitswert. Wie ein Stück seltsamen Hausrat wurden daher viele solcher Sagensammlungen von den Städtern bewertet und die Bücher entsprechend ausgestattet und gestaltet. Manche freuten sich über diese „ländlichen Seltsamkeiten“, manche lachten und unterhielten sich, aber nur wenige drangen in die Tiefe und in den eigentlichen Sinn aller Volkssagen vor.

Dieser Vorgang muss grundsätzlich bekämpft werden. Die alten Sagen gehen zugrunde, wenn sie von ihrer Heimat losgerissen werden. Sie sind und bleiben ortsgebunden! Sie haben ihren Hof und ihre Heimat! Sie sterben ab wie das Edelweiß, wenn es auf falsche Erde gepflanzt wird. Das Buch ist eine Stütze, aber Sinn der Sagen liegt im Erzählen, im lebendigen Wort!

Der heutigen Zeit obliegt daher die große, kulturgeschichtlich unschätzbare Aufgabe, die Sagen den Bauern nicht mehr zu nehmen und sie daher geistig noch mehr zu verarmen und zu entfremden, sondern die neue Zeit muss versuchen, dieses wertvolle lebendige Sagengut wieder in das Volk zurückfließen zu machen oder aber — sofern es noch vorhanden ist — neuerdings zu festigen und zu stärken. Der Bauer hat in den vergangenen Jahrzehnten durch die überschnelle technische Entwicklung und vor allem durch die äußeren, bekannten Ereignisse sehr häufig und in vielen Fällen fast erschreckend stark die Verbindung mit der Vergangenheit und der Überlieferung verloren. Damit ist die Bodenständigkeit des Bauerntums selbst auf das schwerste in Mitleidenschaft gezogen worden. Demgegenüber bilden die Volkssagen eine fast unbewusste Voraussetzung und Grundlage wahrer Heimatliebe!

Eine hohe Aufgabe erwächst nun notgedrungen für die Lehrerschaft: Sie muss Vermittlerin und Hüterin des bäuerlichen Volksgutes über den Schulunterricht und durch den Schulunterricht, vor allem den Volks- und Heimatunterricht werden! Das bäuerliche heimatliche Sagengut muss wieder den Weg zurück aufs Land machen oder muss neu verstärkt werden. Der Volks- und heimatkundliche Unterricht eines Hochtales bietet ja wenig große geschichtliche Ereignisse. Dafür aber lebt Berg und Alm, Haus und Hof in viel seltsamen und wundersamen Sagen und Geschichten. Jeder Berg und jede Flur gewinnt durch diese Sagen einen geheimen und geheimnisvollen Reiz. Dies Gefühl muss der bäuerlichen Jugend irgendwie geweckt werden: Ehrfurcht! Aber auch das lehrreiche und erzieherische Element der Volkssagen muss im Unterricht dargelegt werden. Die Wiederbelebung der jungen Köpfe und Herzen mit dem oft so sinnigen und humorvollen Sagengut ist Voraussetzung, wenn man die letzten Reste der Sagen noch retten und lebendig halten will. Die Sage lebt im Erzählen. So tief ist die Gemütsart des Volkes, dass noch im letzten Menschenalter Sagen gebildet worden sind, die sich tief verankert haben. Das Volk ist daher noch heute für die Sagen aufnahmefähig; nur müssen wir sie wieder achten und dürfen sie vor allem nicht lächerlich machen. Es gibt auch bei Bauern einen Skeptizismus, der äußerst gefährlich ist. Also Wiederbelebung der Sagen in den jungen Köpfen und Herzen — sonst vermodert dies wertvolle Kulturgut ein für allemal in alten staubigen Bibliotheken!

Unsere Aufgabe bleibt: Nicht dem Volk und vom Volk immer nehmen, sondern ihm wieder das zurückgeben, was ihm genommen wurde. Von diesem Standpunkt aus wurde die Arbeit im November - Dezember 1945 neu aufgenommen und in den Weihnachtsferien 1945/46 in geschlossener Form niedergeschrieben — belebt und getragen von dem uralten und ewig neuen Erlebnis: „Es war einmal . . .!“

Innsbruck, am Vorabend von St. Josefstag 1946

Quelle: Wipptaler Heimatsagen, gesammelt und herausgegeben von Hermann Holzmann, Wien 1948, S. 9 - 12.