Der Draxgeist

Etwa fünfzig Schritte vor der "Ran" stand lange Zeit am rechten Wegrand ein zum Hof gehörender Stall, Draxstall genannt. Davor war eine Bank, und darüber an der Stallwand hing ein großes Holzkreuz mit einem schon recht verwitterten Heiland. Mancher Wanderer mag sich gefragt haben, warum der nicht wenigstens etwas hergerichtet würde. Dazu hätte man freilich den Korpus abnehmen müssen, und das getraute sich niemand. Damit hatte es folgende Bewandtnis.

Es war vor langer Zeit, da kam von der Sidanalm her der Barmerbauer mit einer Last Käse auf der Kraxe. Beim Draxstall angekommen, setzte er zu kurzer Rast die Bürde ab und nahm nach alter Gewohnheit den Hut vom Kopf, obwohl der Heiland gar nicht am Kreuz hing. Den hatten die Leute von der "Ran" just an diesem Tag abgenommen, um ihn ein wenig herauszuputzen.

Kaum hatte sich der Bauer auf die Bank gesetzt, hörte er aus dem Stall lautes Muhen und Kettengerassel. In der Meinung, eine Kuh habe sich losgerissen, hielt er Nachschau, doch der Stall war leer. Kopfschüttelnd ging er zu seiner Kraxe zurück, als er abermals Gemuhe und Gerassel vernahm.

"Bin ich auf der Alm am End' gar ein Läpp worden?",

fragte sich der Bauer, denn wieder war kein Vieh zu sehen. Der Bauer nahm seine Kraxe und lief tal-aus. Noch am selben Tag erfuhr der ganze Schwendberg von dem Vorfall, und die Leute von der "Ran" beeilten sich, den alten Herrgott wieder an seinen Platz zu bringen. Seither wagte es niemand mehr, ihn abzunehmen.

Quelle: Hifalan & Hafalan, Sagen aus dem Zillertal, Erich Hupfauf, Hall in Tirol, 2000, S. 96.