Die Stieraugen

Ein Bauer auf dem Schwendberg hatte einen schwarzen Stier, der fraß und soff den ganzen Tag und brüllte am Abend dennoch vor Hunger und Durst. Der Bauer wusste sich nicht mehr zu helfen und fragte den Hippacher Pfarrer um Rat. Für den war es keine Frage, dass der Stier den Teufel im Leib hatte, den man austreiben musste. Freilich könne es sein, dass der Höllische gleich samt dem Vieh das Weite suche. Dem Bauern war es recht, und so stieg der Pfarrer mit zwei Ministranten den Berg hinauf, wo er sich sogleich in den Stall begab. Der Stier zerrte wütend an der Kette und stampfte mit den Hufen, dass der ganze Stall bebte. Als ihn der Geistliche gar noch mit Weihwasser besprengte, riss sich das Tier los, rannte brüllend zur Tür hinaus und verschwand im Wald.

Lange Zeit sah und hörte man nichts mehr von dem Vieh, bis eines Tages Nachricht von der Horberger Alm kam, dass sich der schwarze Stier in den kleinen, aber tiefen Bergsee gestürzt habe. Ein Hüterbub habe es mit eigenen Augen gesehen. Von dieser Stund' an sank der Wasserspiegel des Sees. Bald war er nur noch ein Tümpel, und schließlich hatte das Wasser gerade noch die Größe eines Stierauges. Die Vermutung lag nahe, dass es sich einen unterirdischen Weg gebahnt hatte. Die älteren Leute freilich glaubten fest daran, dass der Teufelsstier das Wasser gesoffen habe. Bald hieß es: "Wenn die Stier äugen brechen, kommt das Wasser!"

Als im Sommer des Jahres 1946 eine Überschwemmung in Schwendau großen Schaden anrichtete, konnte man hören, dass die Stieraugen gebrochen seien. Nur der Bewohner der Penzenschmiede, ein steinaltes Mandl, verschlief die unheilvolle Nacht sorgenfrei, während die wilden Wasser zu beiden Seiten seiner Heimstatt tosend talwärts schössen. Er wusste, dass die Schmiede unter dem Schutz des Allmächtigen stand.
Weil der Geisterstier auf der Horbergalm immer wieder das Vieh anfiel und dabei das eine oder andere Stück zu Tod trampelte, war der Verdruss bei den Almleuten groß. Immer weniger Bauern trieben ihr Vieh auf die verrufene Alm. Dadurch erlitt der Almbesitzer einen nicht geringen Schaden. In seiner Bedrängnis begab er sich zum Hippacher Pfarrer und bat ihn um Rat. Der Geistliche riet ihm, einen Stier aufzuziehen, ihn acht Jahre lang recht gut zu füttern und dann auf die Horbergalm zu treiben, damit er sich dem wilden Stier entgegenstelle.
Acht Jahre sind eine lange Zeit, und einen Stier so lang durchzufüttern, ist kein kleines Opfer. Aber es blieb dem Bauern keine andere Wahl. Der Stier wurde aufgezogen, und nach acht Jahren stand ein gewaltiges Stück Vieh im Stall. Der Bauer war froh, als der Riesenstier endlich auf die Alm kam.

Dort dauerte es dann nicht lang, bis die beiden Stiere aufeinandertrafen. Sogleich begann der blutige Zweikampf. Weithin war das Gebrüll zu hören, und vom Gestampfe erzitterte der Boden. Die Schädel krachten aufeinander, Blut floss, und endlich versanken beide in dem morastigen Grund. Zurück blieben zwei Vertiefungen, in denen sich das Wasser sammelte und zwei kleine Tümpel bildete. Die Almer versicherten, dass man darin hin und wieder die Augen der beiden Stiere sehen könne. Der Geisterstier aber ist seither nie mehr gesehen worden.

Quelle: Hifalan & Hafalan, Sagen aus dem Zillertal, Erich Hupfauf, Hall in Tirol, 2000, S. 90ff.