Das Valdigestö-Mannl

Das Valdigestö ist eine furchtbare Felsenschlucht nordöstlich von Nauders. Sie mündet sich mit dem Valdigestö-Bache bei dem Fortfikationswewrke zwischen Nauders und Finstermünz, zieht sich gegen die Alpe Labaun, und darüber befindet sich der Schafberg Pazal mit dem Roßkopf und noch höher ragt der Schmalzkopf.

In dieser Felsenschlucht hauste vor Zeiten ein Nörgl, allgemein "Valdigestö-Mannl" genannt. Es war ein neckisches Männlein und schlug, wenn Leute vorbeigiengen, ein gellendes Gelächter auf, so daß die Felswände es zehnfach nachhallten und der Lärm kein Ende nehmen wollte.

Am Öftesten erschien es auf dem nahegelegenen Berghofe Parditsch, wo es ganz heimisch gewesen sein soll. Es war alt und grau, klein, hatte aber hochgespaltene Füße. Sein Kleid war Bergmoos. Auf Parditsch trieb es vielfältig seine Neckerei. Es schichtete das Milchgeschirr übereinander, wärmte den Ofen glühend heiß ein, ließ im Stalle alles Vieh von der Kette los oder hängte drei bis vier Stücke Vieh in eine Kette ein und erhob seitwärts in einem Winkel, wenn Leute kamen, ein schallendes Gelächter. Unglück jedoch entstand nie, und Schaden fügte das Männlein nicht zu.

Einmal fiel sich in Valdigestö ein Schäferknabe zu todt, die ganze Gemeinde ward aufgeboten und gieng suchen, fand aber nur mehr den Hirnschädel. Dabei lachte das Männlein immer hellauf. Einmal soll das Männlein ein Kind von Parditsch mitgenommen haben. Man suchte es, und da soll man gesehen haben, wie das Männlein das Kind über einen Felsen hinabgeworfen haben, aber im Hui stand das Männlein unten am Felsen, hob das Kindmit seinen Armen auf und trug es heim. Auch den Ruf habe das Männlein öfters hören lassen:

"Bin so grau, bin so alt,
Denk' dreimal jung den Piller Wald!"

So erzählte man sich früher, wie ich's noch denke; jetzt ist dieses Männlein wie verchollen, wenigstens hört und sieht man nicht mehr von ihm - auch auf Parditsch. (Nauders. I. Dilitz.)


Quelle: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Tirol, Gesammelt und herausgegeben von Ignaz Vinzenz Zingerle, Innsbruck 1891, Nr. 118, Seite 72.