551. Der fromme Ginezer

Hoch über St. Gallenkirch auf dem Neza stand bis vor kurzem das älteste Haus der ganzen Gemeinde. Es war bereits erbaut zu einer Zeit, da im ganzen Montafon noch keine einzige Kirche war, weshalb seine Bewohner an Sonn- und Festtagen den langen Weg bis nach Bludenz zum Gottesdienst zurücklegen mußten. Das war für betagte Leute, zumal bei großem Schnee im Winter, oft fast unmöglich. Das erwähnte Haus bewohnte als Eigentum damals ein gewisser Ginezer, ein überaus frommer, alter Mann. Eines Tages — es war an einem Sonntag früh — besuchte den Ginezer ein fern lebender Bekannter. Er wurde von seinem Freund, den er seit langem nicht mehr gesehen, aufs herzlichste begrüßt und in seinem Hause willkommen geheißen. Wie beide so im besten Gespräche waren, da unterbrach auf einmal der Alte seinen Freund und sagte: „Jetzt müssen wir beten, weil es in der Kirche zu Bludenz zur heiligen Wandlung läutet." Diese Worte klangen dem Besucher unglaublich und er entgegnete: „Es täuscht dich gewiß; von Bludenz, das fünf Stunden von hier entfernt ist, kannst du es unmöglich läuten hören!" Darauf versetzte Ginezer gelassen: „Stell deinen rechten Fuß auf den meinigen, dann wirst du das Läuten vernehmen." Der Freund tat, wie ihm der Ginezer sagte, und im gleichen Augenblick hörte er ganz deutlich das Läuten der Bludenzer Glocke.

Quelle: Im Sagenwald, Neue Sagen aus Vorarlberg, Richard Beitl, 1953, Nr. 551, S. 294