442. Die noblen Lechtalerinnen

Zimmermeister Jochum, vulgo groß Senzeler von Schröcken, erzählte mir folgendes:

Er war vor mehr als fünfzig Jahren als unverheirateter Mann auf einer Heimat in Wolfegg, Gemeinde Warth. Am Abend kam oft ein Jäger aus der Nachbarschaft zu ihm auf den Heimgarten. Eines Abends holte des Jägers Weib ihren Mann nach Hause, weil die Geißen so laut und unbändig seien. Als der Jäger aber in seinen Geißstall trat, waren die Tiere mäuschenstill. So ging es noch mehrere Male. Schließlich wollte der erzürnte Jäger die unruhigste Geiß erschießen; als er aber in den Stall kam, lagen die Tiere ruhig wiederkäuend auf der Streue. Da war der Jäger des Treibens müde und besann sich auf ein Mittel wider diese Hexerei. Er nahm von den geplagten Geißen Harn, schüttete ihn in ein Fläschchen, das verkorkt, versiegelt und sorgsam verwahrt wurde. Am dritten Tag sah Zimmermeister Jochum zwei schöne, noble Frauen vom Tiroler Lechtal kommen und an seinem Hause vorbei nach der Wohnung des Jägers gehen. Nach einer Weile kam des Jägers Frau zu seinem Weibe und bat sie, doch mit ihr zu kommen, weil der Jäger sich von den Lechtalerinnen nicht erweichen lasse. Jochums Frau ging mit, und so wurde der Jäger durch vieles Zureden endlich zur Milde bewogen. Er holte das versteckte Fläschlein herbei, öffnete es vorsichtig, und die schönen Lechtalerinnen waren von dem bösen Übel befreit, das sie durch den Gegenzauber des Jägers befallen hatte.

Quelle: Im Sagenwald, Neue Sagen aus Vorarlberg, Richard Beitl, 1953, Nr. 442, S. 247