481. Das Viehstöben auf Lün

Stöba heißt man es, wenn eine ganze Viehherde auf einmal erschreckt über Stock und Stein dahinstürmt, ohne sich von jemanden aufhalten zu lassen. Die Älpler vermuten, daß es dadurch veranlasst werde, daß die Tiere in den Menschen ein Schreckbild erblicken, das ihnen Angst und Scheu einjagt. Man sagt, daß sogar hinkende Tiere nicht zurückbleiben, sondern meistens an der Spitze der andern dahinrennen. Wenn das Vieh endlich zum Stehen komme, soll es häufig sich umwenden und zitternd zurückschauen. Nur der Großhirt könne die gestöbte Herde zum Stehen bringen, wenn er pfeife oder das Kreuz über sie mache. Um das Stöben und andere Unfälle zu verhüten, wird in vielen Alpen abends von einem Hirten oder Sennen über die Herde ein Segenspruch laut gerufen. Besonders soll das auch auf den Liechtensteiner Alpen üblich sein. Auch auf den Alpen Salundi und Lün will man das Stöben beobachtet haben.

II.

Mein Vater hütete im Jahre 1850 auf der Alpe Lün die Schafe. Damals waren noch keine Ställe dort, man trieb das Vieh auf einen eingezäunten Platz zusammen, in den Hag, wo jedes Tier sich alle Tage an der gleichen Stelle einfand. Da kam es einmal vor, daß das Vieh gestöbt wurde, wie die Hochälpler es nennen. In wenigen Augenblicken war die ganze Habe von ihren Plätzen weg und so dicht an einen Ort zusammengedrängt, wie dies nur bei Schafen möglich ist. Wenn dies geschah, vermeinten die Hirten, nur eine einzige Schelle zu hören, und sahen nur, wie alle Tiere, dicht an einem Haufen, die Köpfe in die Höhe streckten. Dann stieß der Hirt, welchem das Vieh anvertraut war — nicht etwa ein anderer — einen Pfiff aus, und sofort wurden die armen Tiere ihre Fessel los und kamen ohne jede Scheu und als ob nichts geschehen wäre an ihre alten Plätze zurück.

Das Viehstöben hatte sich auch in früheren Sommern gezeigt, doch seit der Zeit meines Vaters nicht mehr.

Quelle: Im Sagenwald, Neue Sagen aus Vorarlberg, Richard Beitl, 1953, Nr. 481, S. 264f