Mitleid mit einem Deserteur

Wenn in Bregenz über einen Soldaten die Strafe des Spießrutenlaufens verhängt wurde, mußte er diese im sogenannten Klosterwäldele abbüßen. Einmal aber entwischte dabei einer und floh, nur mit einer Unterhose bekleidet, dem Pfänder zu. Soldaten eilten dem Flüchtling nach, konnten ihn aber nicht mehr einholen. Am Pfänder kam der Soldat zu einem Bauernhaus. Hier bat er den Bauern inständig, er möge ihm Kleider geben. Aus Mitleid mit dem armen Flüchtling willfahrte der Bauer seiner Bitte und kleidete ihn. Der Bursche setzte nun seine Flucht in den Bregenzer Wald fort und hielt sich dort so lange verborgen, bis Gras über die Geschichte gewachsen war. Alsbald erhielt die Behörde Kenntnis hiervon, wer dem Deserteur Kleider geschenkt, und der Bauer mußte aufs Gericht kommen. Man stellte ihn zur Rede und fragte ihn streng, warum er dem Soldaten zur Flucht verholfen habe. Der Bauer gab zur Antwort: „Ich hab' nur nach dem Befehl des Herrn gehandelt: Du sollst die Nackten kleiden!“ Auf diese seine Verteidigung hin konnte man den Bauern nicht verurteilen und mußte ihn freisprechen.

Quelle: Adolf Dörler, Märchen und Schwanke aus Nordtirol und Vorarlberg, in: Zeitschrift f. Volkserzählung f. Volkskunde 16 (1906), S. 296, Nr. 39, zit. nach Sagen aus Vorarlberg, Hrsg. Leander Petzoldt, München 1994, S. 103f