Klausenstein und Kinderbrunnen

Am Berghang nördlich von Bezau befindet sich im ansteigenden Waldgelände der „Höhlenpark“, eine Ansammlung von riesigen Gesteinsblöcken. Sie stammen von einem Felssturz, der vor Jahrhunderten hier heruntergedonnert ist. Manche der Steine sind hausgroß, übereinander gekeilt oder überhängend und bilden unter sich größere höhlenartige Räume. Gleich der erste der riesigen Brocken, zu dem man vom Dorf aus aufsteigt, ist der größte von allen. Er kann über eine Brücke betreten werden und bietet dann einen guten Aussichtspunkt über Bezau. Es ist der so genannte „Klausenstein“. Doch nicht dass sein Aussehen etwa an eine bischöfliche Mitra oder auf andere Art an den beliebten Nikolaus erinnert hätte ist Ursache seiner Benennung gewesen, sondern ein seltsames Geschehen, von dem die Sage erzählt:

Eine Ehefrau war kinderlos, obwohl sie sich sehnlichst viele Kinder wünschte. In ihrer Not äußerte sie einen frevelhaften Wunsch: Ich möchte viele "Gögele" (Kinder) bekommen, und wenns nur gerade Steine wären. Da erbarmte sich der Berg ihrer und kalbte viele riesige Steine. Seit dieser Zeit fand die Frau dort ihre Erfüllung, sie schmückte und pflegte die Steine wie eigene Kinder. Den größten Stein aber, den nannte sie Nikolaus, und so kam er schließlich zu seinem heutigen Namen "Klausenstein"- oder "Gögelestuo".

Auch wenn die Sage von einem „frevelhaften Wunsch“ spricht, dem Berg erschien er offensichtlich nicht als solcher, sondern eher als der verzweifelte Schrei einer Frau nach Kindersegen, und so wurde sogar der harte Stein weich und erfüllte den Wunsch, so gut er es vermochte.

So überraschend es klingen mag, der Name „Klausenstein“ scheint tatsächlich etwas mit dem bekannten hl. Nikolaus zu tun zu haben. Während nämlich in der Stadt der Storch die kleinen Kinder brachte, „wird im Land Vorarlberg am Bodensee dem Klos (Nikolaus) fast Dorf für Dorf das Amt des Kinderbringers zugeschrieben“, stellte der Montafoner Volkskundler Richard Beitl fest. Eine Stelle aus der legendenhaften Biografie, die von diesem Bischof von Myra (heute Demre, Südtürkei) erzählt wird, ließe sich hier gut als Hintergrund denken. Der kleine Nikolaus sei erst viele Jahre nach der Eheschließung seiner Eltern zur Welt gekommen, zu einer Zeit, als diese bereits nicht mehr auf Kindersegen zu hoffen gewagt hätten. Außerdem habe er sich in der Folge besonders schnell entwickelt, so soll sich der kleine Bursche zum Beispiel gleich nach seiner Geburt schon fest auf seinen Beinchen gehalten haben. Daraus scheint der Glaube hergeleitet worden zu sein, Nikolaus stehe besonders den Gebärenden bei, weshalb er auch als ihr Patron gilt. Ein eindrucksvolles Beispiel dazu ist aus einer französischen Ortschaft bekannt, wo die Bäuerinnen früher, wenn sie sich Kindersegen wünschten, in einer Ecke der Kirche die Röcke hoben und ihren Bauch mit einer kleinen Nikolausfigur rieben.

Derartiges ist aus unserer Gegend nicht bekannt, aber immerhin hieß es früher, wenn ein Kind geboren worden war, „der Klos ischt ko“ oder gar „da Klos heat d' Mama plogat“, wie es aus Dornbirn erwähnt wird. Franz Josef Vonbun sieht den entsprechenden Zusammenhang vor allem mit der bekanntesten Nikolaus-Legende, nach welcher der Bischof einst in seiner Heimatstadt drei Töchtern eines armen Bürgers durch seine Geschenke zu einer Aussteuer verhelfen habe; „deswegen sagt man von heiratsfähigen Mädchen: Sie kennen den Saniklos“. Eben, weil sie heiratsfähig waren. Die Rute, vor der sich die Kinder fürchten sollten, ist hier mit einem Male nicht mehr ein Instrument der Züchtigung oder deren Androhung, sondern sie wird zur Lebensrute, und die Berührung mit ihr sollte Gesundheit und Nachwuchs schenken! Und wenn der Nikolaus in anderen Ländern seine Gaben durch den Kamin in einen bereit stehenden Schuh gibt, so ist diese Symbolik deutlich genug, um verstanden zu werden, auch ohne jemals etwas von Sigmund Freud gehört zu haben. Der heutige Kinderstubenbrauch war einst ein Brauch der jungen Leute und der Heilige aus Myra ein Patron der heiratsfähigen Jugend!

Eine weitere Sage aus dem Bregenzerwald erwähnt zwar nicht direkt den Heiligen, spricht aber ebenfalls von einem „Klaus“. Darunter verstand man auch unter den Kindern einen alten, bärtigen Waldmenschen, weiß Natalie Beer:

Hoch oberhalb des Vorsäßes Berbigen gegen die Bärenfalle hinauf befinden sich steile, bleiche Felsplatten, in denen sich ein schmaler, nach innen zu breiter werdender dunkler Spalt öffnet, das „Klausoloh“ - das Klausloch. Die Höhle dort sei voller kleiner, nackter Kindlein, betreut von einer liebevollen alten Frau oder sonst einem Butz. Wenn man sich nach einem kleinen Kind sehnte, musste man seinen Wunsch nur auf einen Zettel schreiben und diesen - zusammen mit einem kleinen Geschenk - vor den Eingang der Höhle legen, und der „Klaus“ brachte es. Dass er es auch wieder holen konnte, wenn die Eltern in ihrer Ratlosigkeit solches vielleicht das eine oder andere Mal ihrem ungehorsamen Kind androhten, mag eher eine zusätzliche „Erziehungsmaßnahme“ gewesen sein.

Sowohl der folgsame als auch der weniger brave Nachwuchs sah in der geheimnisvollen Gestalt vor allem einen ihm gut gesinnten Geschenkebringer, der etwas in den Strumpf oder Schuh einlegte, den man sicher nicht versäumte, am Nikolaus-Vorabend vors Fenster zu stellen; nicht zu vergessen auch das Büschel Heu für das Reittier des „Klos“. Überhaupt war es in früheren Zeiten eher ein „Knecht“, der diese Gaben brachte und nicht etwa ein „Bischof“. Dieser bärtige Waldmensch-“Klaus“, den sich die Kinder da vorstellten, war im wahrsten Sinn des Wortes noch himmelweit von jenem modernen Nikolaus entfernt, wie ihn uns die heutige Geschäftswelt oft bis zum Überdruss bietet. Er war nicht der Weihnachtsmann mit weißem Umhängebart und papierener Bischofsmütze, der auf einem mit goldenen Glöckchen behängten Schlitten vom Himmel herunterfuhr, sondern er kam aus einem ganz anderen Stall geritten, als Mann der Mittwinternacht, der wirklich „von drauß' vom Walde“ kam. Einem solchen „Klaus“ konnte man es schon zutrauen, dass er eines Tages so eine angedrohte Ankündigung wahr machte und wirklich ein ungezogenes „Gögle“ holte, wie es in einer Auer Sage erzählt wird. Als dessen Eltern nämlich eines Tages von der Holzarbeit zurückkamen, fanden sie ihr Kind nicht mehr in der Stube, und es war trotz eifrigsten Suchens vieler Leute verschwunden. Natürlich forschte man in der näheren und weiteren Umgebung noch tagelang weiter. Schließlich fand man es wohlbehalten auf einem Vorsäß wieder.

Noch eine weitere Sage ähnlichen Inhalts findet sich im Wälderland.

„Wartet, ich rufe den Butzoma, der nimmt euch mit!“ So drohte eine Mutter oft ihren Kindern, wenn sie nicht brav waren. Zuerst zeigten die Worte die erwartete Wirkung, doch nach und nach gewöhnten sich die Kleinen daran. Als diese eines späten Abends wieder einmal besonders unfolgsam waren, packte die zornige Mutter eins der Kinder, hob es, so gut es ging, zum offenen Fenster hinaus und rief: „Butzoma, Butzoma, komm und nimm's!“ Und in demselben Augenblicke wurde der Mutter das Kind aus den Händen gerissen und durch die Lüfte entführt. Am ändern Morgen sah man an den nächsten Bäumen ein paar Fetzen vom Kleid des Kindes hängen, von ihm selbst aber war keine Spur mehr zu entdecken.

Das war ganz offensichtlich nicht jener „Butzemann“ gewesen, den sich die Kinder sonst stets als kleinen lustigen Hausgeist vorstellten und von dem sie oft sangen: „Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann in unserm Haus herum ...“ Das alte Lied findet sich - ohne Silbenwiederholungen - bereits in der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ vom Jahre 1806. In Wirklichkeit war der Butzemann jedoch seit jeher eine Schreckgestalt. Gewöhnlich stellte man sich dabei einen vermummten Mann vor, der Kinder in seinen Sack steckte und sie anderwärts verkaufte. In der Sammlung „Deutsches Kinderlied und Kinderspiel“ findet sich das Lied vom Butzemann bezeichnenderweise im Abschnitt „Kinderschrecken oder Kinderscheuchen“, und gleich im Anschluss daran stößt man auf weitere Gestalten wie den „Hurlemann“, der im Elsass straßauf, straßab Kinder einsammelt, oder den „Bobeloz“. Und wer gedacht hat, in der Gegend von Hameln erschrecke man die Kinder sicher mit dem bekannten „Rattenfänger“, der einst die Kinder auf Nimmerwiedersehen aus der Stadt geführt haben soll, irrt; dort gab (und gibt?) es nämlich den „Butzekerl oder den Claus“ (!), um unfolgsamem Nachwuchs Angst einzujagen. Solche Gestalten kannten schon die alten Römer, bei deren Festzügen ein „manducus“, ein „Kinderfresser“, vorausging. Auch der bekannte „Kindlifresserbrunnen“ am Kornhausplatz von Bern zeigt eine zwergenartige Gestalt, die eine Anzahl Buben ins Maul schiebt. Es bleibt im Fall aus dem Bregenzerwald wohl nichts anderes übrig, als das düstere Geschehen mit seinem „Kidnapping“ dem bärtigen Klaus

Kindlifresser-Brunnen in Bern anzulasten, außer man will sich der Meinung von Franz Josef Vonbun anschließen, der den Begriff „Butzoma“ gleich dem Teufel zuordnet. Letzterer war nämlich auch gemeint, wenn im Bregenzerwald - und nicht nur dort - von den Kindern gesungen wurde, was Franz Dieth vor rund achtzig Jahren aus Hirschau notiert hat:

As rengelat, as schnielet, as gaut a kühla Wind,
und winn dar Gugger d'Modle (Buabe) holet, ist as o koa Sund!
Mit „Gugger“ war nämlich nicht etwa der Kuckuck, sondern sicher der Teufel gemeint.

Eine der „Butzoma“-Sage sehr ähnliche Geschichte wird auch bereits vom Luzerner Stadtschreiber Renward Cysat, dem Begründer der schweizerischen Volkskunde, erwähnt. Er bezieht sie aufs Jahr 1610. Auch damals weinten Kinder natürlich manchmal in der Nacht und wollten und wollten damit nicht aufhören. Und auch damals gab es Mütter, denen dann vielleicht einmal die Nerven durchgingen und das Kind „in des Grüllimutzen Namen“ still sein hießen. Einen solchen Fall schildert der Stadtschreiber. Kaum dass die Mama die Türe zur Kinderkammer geschlossen hatte, stand prompt schon der Angerufene neben dem Bett des Kleinen. Da schrie dieser noch mehr als vorher, ein schwarzer „Böli“ sei da und wolle ihn mitnehmen. Die Sache sei jedoch gut ausgegangen, denn die Mutter habe den Bösen mit den Namen Jesus und Maria und mit dem Kreuzzeichen vertrieben.

Erst recht zu denken gibt eine Sage, die aus Regglisweiler (Baden-Württemberg) berichtet wird. Dort habe einmal ein Vater einen Burschen beauftragt, als „St. Klosen“ zu seinem kleinen Mädchen zu kommen. Am Abend, nach dem Betläuten, klopfte es, und es wurde „Herein!“ gerufen. Der „Klosen“ aber war nicht geheuer, er hatte Bocksfüße! Die Sache ging dann aber doch noch einigermaßen gut aus, weil die beherzte Mutter gleich aufsprang und zum Weihwasser griff. Der Teufel aber - denn der war es offensichtlich - nahm das Kind mit und ließ es erst fallen, als die Mutter zum Himmel schrie und betete.

Dass der Glaube der Kinderherkunft gern an einzelnen Felsen oder Steinbrocken haftete, war auch anderswo gut bekannt. Solche auffallenden Steine hatten dann dort ebenso besondere Namen wie beispielsweise der „Kindlistein“ jenseits des Rheins in Heiden, wo sich ein Felsrücken mit einer langen und tiefen Rinne erhebt. Ausgetretene Löcher dienten offensichtlich Frauen, die schwanger werden wollten, dazu, den Stein zu besteigen. Anschließend rutschten sie auf der glatt polierten Fläche hinunter. Frisch eingeritzte Herzen auf der Kuppe des beeindruckenden Brockens zeigen, dass er auch heute jenen als Treffpunkt dient, die sich durch seine Bedeutung besonders angesprochen fühlen.

Oder jener Stein im Fricktal (Aargau, CH), wo sich nach altem Glauben der „Kindertrog“ in einem hohen Felsenturm befand. Wenn sich während eines Gewitters Steine lösten, öffnete sich der Trog, und die Hebamme holte ein Kind. Steine galten offensichtlich als Seelenorte der Ungeborenen. In Somvix im Bündner Oberland, etwa 7 km vor Disentis, befindet sich ein Kinderstein, der „Crap Ner“, und der Ausdruck „noch beim schwarzen Stein gewesen sein“ heißt dort so viel wie unser „domols bist du noch mit da Mugga gfloga“.

Anderswo konnten mitfühlende Vorübergehende gelegentlich sogar unter den Steinen die Kleinen weinen hören. In der „Garfrescha“ oberhalb von Vandans zum Beispiel - und damit sind wir wieder in unserem Land -, gibt es nämlich auch einen „Kindli-Ste“. Dort wo der Lant-schisotter Bach in den Aualatsch mündet, liegt ein von Tannen bewachsener, beeindruckender Brocken, und dort habe man vielmal ein Kindle rehren gehört. Andere meinen, man sage dem Stein so, weil man vor Zeiten ein neugeborenes Kind dort gefunden habe.

Noch mehr verbreitet war die Vorstellung, kleine Menschlein befänden sich in Felslöchern, Höhlen und Bäumen. Offensichtlich war es das jeweilige Bild der Landschaft, das bestimmte, wo der Nachwuchs zu Kindli-Ste, Vandans holen war. Beliebt waren auch Dorfweiher, Mühlen- und Schlossteiche oder einfach Quellen und Brunnen. Womit wir zu einer der seltsamsten Sagen des Landes kommen, zu jener vom „Rankweiler Kindlesbrunnen“.

Während ähnliche Berichte im Schwäbischen oder noch weiter im Norden gar nicht so selten vorkommen, ist diese Art der Kinderherkunft in anderen Talschaften unseres Landes unbekannt. Erzählt wird auch diese Sage von Natalie Beer. Die Dichterin stammt aus dem Bregenzerwald, und zwar aus Au. 1903 als erstes von dreizehn Kindern geboren, verlebte sie die Jugend in ihrem Heimattal, erst nach dem Ersten Weltkrieg zog ihre große Familie ins Vorderland.

Dass die Sage vom Auer „Klausoloh“ in ihrer Familie bekannt war, darf mit Sicherheit angenommen werden, schreibt sie doch später, was für einen Riesenrespekt sie alle vor diesem Klausenloch gehabt hätten. Wahrscheinlich hat sie die Sage auch bereits damals selbst ihren jüngeren Geschwistern erzählt. Vermutung muss es allerdings bleiben, ob sie die Sage aus ihrer engeren Heimat in einer Variante nach Rankweil übertragen hat.


Brunnen vor der Ranweiler Liebfrauenkirche, 1890
© Berit Mrugalska, 16. Oktober 2005

Vor Zeiten befand sich in Rankweil ein Brunnen, aus dem die kleinen Kinder, wenn ihre Zeit gekommen war, zur Welt kamen. Jedes junge Elternpaar, das sich in frommer Absicht dem Brunnen näherte, durfte daraus ein Kindlein empfangen. Einmal aber haben böswillige Burschen Steine in den Brunnen geworfen, so daß alles keimende Leben erstickte. Seither ist der Brunnen verschüttet, und die Mütter müssen dem Kindlein unter Schmerz und Sorgen das Leben geben.

Leider verrät uns Natalie Beer nicht, wo in Rankweil einst dieser Brunnen gestanden sein soll. Besonders das Wasser als Lebensträger und Lebensspender hat Denken und Glauben stets beschäftigt. „Kinderbrunnen“ haben eine weite Verbreitung, im Schwäbischen hatte früher fast jeder Ort einen bestimmten tiefen Brunnen, aus dem - so erzählen die Geschichten — die kleinen Kinder geholt wurden, und ein alter Kinderreim aus Bayern erzählt von drei Jungfern, die aus einem Haus schauen. Die dritte von ihnen, so heißt es, „... geht an Brunna, hat ein Kind gefunna“. Auch in Bregenz habe man früher gesagt, die Kinder kämen von Lindau, aus dem „Lindauer Brunnen“, und betagtere Frauen wissen heute noch genau: Die Hebamme habe die Kleinen in einer Tasche aus Lindau gebracht.

Das Lied von den „drei Jungfern“ ist auch anderswo gut bekannt. Im „Sonnenlied“ aus „Des Knaben Wunderhorn“ sind es drei „schöne Puppen“ und es heißt dort:

„Sonne, Sonne, scheine,
fahr über Rheine,
fahr übers Glockenhaus,
gucken drey schöne Puppen raus,
eine die spinnt Seiden,
die andre wickelt Weiden,
die andre geht ans Brünnchen,
findt ein goldig Kindchen.“

Bei diesem Text werden sich wohl manche unter den Leserinnen und Lesern an ein Lied der eigenen Kinderzeit erinnert fühlen, ans „Rita rita Rössle“. In ihm ist auch von einem „Gloggahus“ die Rede, aus dem ebenfalls drei „Poppa“ herausschauen, von denen es heißt: „die erst spinnt Sida, die zweit schnätzat Krida.“ Ein Brünnchen kommt dann allerdings nicht vor, dafür heißt es von der dritten Poppa: „... und lot 's hoalig Sünnele us.“ Und in einer Dornbirner Version des Liedes, in der das Schlüssle und das goldene Haus nach Wangen verlegt wurden, sind wir ohnehin wieder beim Thema, wenn dort auch drei „Jumpfere“ herausschauen, denn die dritte von ihnen „tuot 's Törle uf und lot die bösa Buobo-n-us“.

In die gleiche Richtung weist auch jene Deutung, welche die drei Jungfrauen oder Poppa als Stellvertreterinnen der alten germanischen Nornen sieht, die dem Neugeborenen den Schicksalsfaden spannen. Dabei wäre die erste für den seidenen Glücksfaden zuständig. Die zweite, die „Kreidenschnetzerin“, hätte nichts mit Kreide zu tun, sondern ihre Tätigkeit müsste mit dem nord. snua - schnüren/winden und chride - Falschheit/Streit erklärt werden, alles Dinge, die dem kleinen Menschlein sicher auch noch bevorstanden.

In einer Fortsetzung der eingangs erwähnten Sage aus Bezau heißt es, dort werde immer noch geheimnisvoll erzählt, dass alle kleinen Kinder vom „Gögele-stuo“ kämen. So heiße es vor allem, wenn „a Fääl am Ofo hockt“. Damit wollte man dasselbe ausdrücken wie in anderen Teilen des Landes, wenn es dort hieß: „Es sind Stock im Ofa!“; womit daraufhingewiesen wurde, unberufene Zuhörer seien anwesend, Kinder zum Beispiel. Um noch ein wenig beim Thema zu bleiben, hieß es dann, wenn die Geburt stattgefunden hatte, vom Ofen, er sei „zämma-gfalla“, „zemma-brocha“, „zemma-trolat“ oder gar „vergaglet“, wofür sicher die gedankliche Verknüpfung von Backofen und Mutterleib die Ursache war, wie denn auch von einer Hochschwangeren gesagt wurde, sie sei „ofendick“, und zwar durchaus mit Respekt.

Man geht wohl nicht fehl, in allen Berichten von Steinen, Bäumen, Höhlen und Brunnen auch eine schamhafte oder bequeme Umschreibung der natürlichen Herkunft des Nachwuchses vor dem fragenden Kind zu sehen. Gleichzeitig stecken hinter der Anschauung, Kinder wohnten wirklich in Seen und Brunnen, zum Teil sicher auch Reste alten Glaubens und die Erinnerung an einen einst sinnhaften Glauben von Menschen, die eng mit der Natur verbunden waren. Hier mischt sich Heidnisches und Christliches auf eigentümliche Weise. Durch den Brunnen geht es im Märchen ins unterirdische Reich der Frau Holle - eine bewährte Kinderbringerin -, im Brunnen hütet aber auch die Muttergottes die Kleinen, gibt ihnen Brei und spielt mit ihnen. Gerade vor Liebfrauenkirchen finden sich solche Kinderbrunnen besonders oft. In Rankweil käme da eigentlich nur die ehemalige Zisterne beim Frühmesserhaus in Frage, denn den Brunnen für die Wallfahrer auf dem Platz vor der Kirche gibt es erst seit gut 250 Jahren, und das ist für eine Sage, die in Zeiten derart alter Glaubensvorstellungen zurückreichen soll, denn doch etwas wenig. Die Zisterne - ihre Lage kann heute nur noch von Ortskundigen erfragt werden -hätte dagegen durchaus das entsprechende Alter und käme somit für unsere seltsame Sage in Frage.

In der Tiefe eines solchen Brunnens war das himmlische Gewässer, in dem sich nach altem Glauben die Seelen der Ungeborenen befanden. Von dort brachten der Storch, die Krähe oder der Schwan die Kinder und ließen sie durch den Kamin der Mutter ins Bett fallen. Auch dass Hebammen kleine Kinder aus einem Brunnen fischten — oft bei sich daheim im Keller —, kommt in alten Sagen vor. In Zirl bei Innsbruck warf eine Hebamme in einer solchen Erzählung die Kleinen dem Pfarrer zu, der sie auffing und in seinem Keller behielt, bis sie dort abgeholt wurden. Und hier in Rankweil kamen die jungen Paare und durften, wenn sie sich „in frommer Absicht dem Brunnen näherten“, daraus ein Kindlein empfangen. Und dann tauchten böswillige Burschen auf und wussten nichts Besseres zu tun, als Steine in den Brunnen zu werfen!

Neben all dem Gesagten gibt es indes auch noch eine wesentlich einfachere Erklärung für diese geheimnisvollen Brunnen. Wo heute das Straßburger Münster steht, soll einst ein geweihter Hain mit drei Buchen und einer Quelle anzutreffen gewesen sein. Letztere war weitum bekannt, soll sie doch vom hl. Remigius geweiht worden sein. Und bei diesem handelte es sich schließlich um jenen Bischof, vor dem im Jahre 496 der Frankenherrscher Chlodwig - im zweiten Kapitel war schon einmal davon die Rede - seinen Nacken zur Taufe gebeugt hatte, ein Ereignis von größter Tragweite, denn in der Folge ließen sich auch seine Franken und die gerade besiegten Alamannen taufen. Bald daraufhatte an dieser Stelle der hl. Arbogast die erste Marienkirche erbauen lassen, wobei der geheiligte Brunnen ins Gotteshaus einbezogen wurde. Über Jahrhunderte wurde hier getauft, und aus guter alter Gewohnheit holte man das Wasser für die Taufen in der Umgebung jeweils vom Münsterbrunnen, weswegen dieser im Volk nur der „Kindelbrunnen“ genannt wurde.

Die wichtigste Person bei so einer Feier war natürlich jene, die dabei über den Taufstein gehalten wurde, der Täufling selbst. Etliche Jahre später machte dann so ein Kind die Bekanntschaft mit Steinen ganz anderer Art. Diesmal bekam der Knirps wahrscheinlich schon etwas mit von der Feierlichkeit, mit der das Setzen eines so genannten Grenzsteins vor sich ging. Vor allem aber blieb ihm die Wichtigkeit des Vorgangs im Gedächtnis, wenn der Vater dabei jenes Mittel anwandte, das bereits an ihm selbst praktiziert worden war: Eine schallende Ohrfeige und gelegentlich sogar Prügel, begleitet von einem dreimaligen „Merk dir's!“, garantierten, dass auch der nächsten Generation das wichtige Ereignis, vor allem aber der richtige Standort des Marksteins unvergesslich blieben.

Grenzsteine galten wie jedes Grenzzeichen als heilig und unverletzlich. Wehe dem Frevler, der es wagte, sie zu verändern oder zu entfernen.

Quelle: Mit freundlicher und exklusiver Genehmigung von Franz Elsensohn, Hexenplätze, Kinderbrunnen, Sltsames und Sagenhaftes aus Vorarlberg, Bd. 2, Hohenems 2002, S. 63 - 78